Belastet: NS-Verstrickungen von Experten – von Manuela Rienks 

Dr. Manuela Rienks ist Zeithistorikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Museumsabteilung der Bayerischen Schlösserverwaltung.

BLICK NACH VORN IM ZEICHEN DER DEMOKRATIE

Wie die hier vorgestellten Biografien zeigen, waren nicht wenige Teilnehmer des Verfassungskonvents mittelbar oder unmittelbar in das NS-System eingebunden oder hatten das Regime durch die Aufrechterhaltung einer funktionierenden Verwaltung, Justiz und Diplomatie unterstützt. Anhand der vorgestellten Akteure wird auch die physische Nähe der auf Herrenchiemsee Anwesenden bei gleichzeitiger ideologischer und politischer Ferne deutlich. Wie ist es dennoch erklärbar, dass Personen wie Hermann Brill oder Otto Suhr mit diesen Kräften zusammen an einer neuen demokratischen Verfassung arbeiten konnten?

Zunächst spielte sicherlich der Pragmatismus der unmittelbaren Nachkriegszeit eine wichtige Rolle. Im Mittelpunkt der Besprechungen des Verfassungskonvents stand die sachliche Arbeit an der neuen, demokratischen Staatsform. Das Herkommen der Teilnehmer und ihre womögliche Verstrickung in den Nationalsozialismus wurden dem untergeordnet. Im Sinne des Dialogs und der Demokratie passten sich die damaligen Mitwirkenden den neuen, auch von außen durch Niederlage und die Besatzungsmächte vorgegebenen demokratischen Staatsverhältnissen an.

Die nationalsozialistisch Belasteten profitierten davon, dass in der breiten Bevölkerung, aber auch in der deutschen Politik der damaligen Zeit der Wille zur Aufarbeitung der vergangenen Diktatur nach Kriegsende schnell nachließ.
Der Wunsch nach einem Schlussstrich war groß. Schon im Januar 1950 äußerte der Bundesjustizminister Thomas Dehler (FDP) im Deutschen Bundestag: „[…] es ist in dieser schauerlichen Zeit viel gefehlt worden. Ich meine, man sollte mit diesen Dingen zu Ende kommen.“1 Und schließlich erschienen, wie eingangs ausgeführt, viele Aspekte, die heute als „NS-belastet“ gelten, damals nicht so. Vieles war aber auch schlichtweg noch nicht bekannt. Hierbei müssen vor allem die Konjunkturen der Entnazifizierung und der NS-Aufarbeitung bedacht werden.
Die personellen Kontinuitäten in Verwaltung und Politik und damit auch beim Verfassungskonvent sind auch dem Kalten Krieg geschuldet. Die Konzentration der Besatzungsmächte auf diesen neuen Konflikt rief einen Wechsel in der Entnazifizierungspolitik hervor, band Ressourcen und priorisierte die Ablehnung der kommunistischen Ideologie. Weitreichende Amnestien führten schließlich zu einer Rückkehr von belasteten Richtern und Staatsanwälten in den Justizdienst.

Die ehemaligen Opfer des Regimes fügten sich im Sinne der Zukunftsorientierung ein, nicht zuletzt da davon auszugehen ist, dass sie durch ein neuerliches Thematisieren ihrer Opferrolle abermals in eine defizitäre Position gerutscht wären. Der Reisebericht Klaus Manns zitiert Hermann Brill im Juni 1945: „Wir brauchen und suchen jetzt alle, die wahrhaftig guten Willens sind. (…) Die alten politischen Gegensätze sollten vergessen sein. Im unterirdischen Kampf gegen das Nazi-Regime haben Kommunisten mit Sozialdemokraten und Katholiken zusammengearbeitet, so wie Konservative und Liberale in den Konzentrationslagern zusammen gelitten haben. In diesem Geiste sollte es weitergehen; nur so kann Deutschland wieder aufgebaut und eine deutsche Demokratie allmählich hergestellt werden.“ Auch wenn Brill damit zunächst nicht die nationalsozialistischen Eliten und Verantwortlichen gemeint haben mag, charakterisiert dieses Zitat den Blick nach vorn im Zeichen der Demokratie sehr treffend. In diesem Sinne muss die Arbeit auf dem Verfassungskonvent von Herrenchiemsee verstanden werden.
1 Thomas Dehler im Deutschen Bundestag, Protokoll der 26. Sitzung, Bonn, Mittwoch, den 11. Januar 1950, S. 783, https://dserver.bundestag.de/btp/01/01026.pdf [Stand: 10.07.2023].

BLZ

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Der ganze Text findet sich im Themenheft „75 Jahre Verfassungskonvent von Herrenchiemsee“ oder auf der Webseite der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (www.blz.bayern.de).
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