Themenforum Jüdisches Leben in Deutschland

Ein Interview mit dem Sänger Gil Ofarim

Ein Interview mit dem Sänger Gil Ofarim

Bild: Gil Ofarim Foto:Ina Bohnsack

„Das jüdische Leben in Deutschland ist bunt“

Gil Ofarim wurde am 13. August 1982 als Sohn des israelischen Sängers Abi Ofarim und dessen Ehefrau Sandra in München geboren. Mit 15 Jahren wurde er das Gesicht einer Foto-Love-Story in der „Bravo“, wo er einen Musiker darstellte. Daraus entwickelte sich tatsächlich eine internationale Musikkarriere, im Rahmen derer er vor allem in Asien große Erfolge feierte. Nach seiner Zeit als Solokünstler war Gil Teil der Bands „Zoo Army“ und „Acht“. Daneben betätigte sich Gil Ofarim in den vergangenen Jahren regelmäßig als Schauspieler und Synchronsprecher und nahm erfolgreich an diversen Fernsehformaten wie „Let’s dance“ oder „The Masked Singer“ teil. Gil Ofarim hat außerdem eine eigene Radioshow. Derzeit ist Gil Ofarim wieder als Solokünstler unterwegs, kürzlich präsentierte er seine Autobiografie „Freiheit in mir“.

E+P: Sie haben im Februar 2020 Ihr neues Album „Alles auf Hoffnung“ veröffentlicht – seit vielen Jahren wieder ein Soloalbum. Welche Bedeutung hat das Werk für Sie?

Gil Ofarim: Grundsätzlich bin ich ein Künstler, der sich als Musiker in Form eines Songs und als Schauspieler in Form eines Stückes ausdrückt. Ich brauche die Kunst als Ventil. Ich hatte die Jahre davor sehr viel gemacht als Schauspieler, als Synchronsprecher, ich hatte in Bands gespielt. Es war jetzt, nachdem ich viel erlebt, durchlebt und auch überlebt hatte, an der Zeit, wieder etwas für mich selbst zu machen. Ich habe eineinhalb Jahre das Album geschrieben und produziert, mich aber – auch wenn es aufgeblasen klingt – ein Leben lang darauf vorbereitet. Das Album ging von 0 auf 5 in den Charts, ein Erfolg, den ich in Deutschland schon lange nicht mehr gehabt hatte. Ich saß mit meinen Kindern im Auto, als ich diese Nachricht erhielt, und sie haben dann erlebt, dass Tränen auch Freude ausdrücken können. Wir sind daraufhin kurz auf Tour gewesen, um das Album live zu präsentieren, und dann kam der Rockdown, wie ich es gerne nenne, weil ich das andere Wort nicht mehr hören kann. Erschreckenderweise passt der Titel meines Albums sehr gut in die Zeit, aber wie wir alle hatte ich zu dem Zeitpunkt, als ich die Songs geschrieben hatte, natürlich keine Ahnung, was auf uns zukommen würde im Jahr 2020. Die Idee des Albums passt: Wenn alles am Arsch ist, bleibt nur die Hoffnung. Ich bin froh, dass ich den Menschen in dieser Zeit mit meinen Songs, die ich auch im Rahmen von Online-Sessions gespielt habe, ein bisschen helfen konnte. Und das hat wiederum mir selbst geholfen.

E+P: Sie singen von der „Stimme [Ihres] Vaters“, die Ratschläge erteilt, kreieren mit dem Motiv des Schmetterlings eine Vergänglichkeitsmetaphorik und thematisieren im Song „Nach dir Regen“ den Abschied von einem geliebten Menschen. Man hat den Eindruck, Ihr 2018 verstorbener Vater Abi Ofarim zieht sich durch das Album. Welche Beziehung hatten Sie zu ihm?

Gil Ofarim: Wie man auf Bairisch sagt: „Des is‘ der Papa“. Er war mein Manager, mein Freund, mein Vorbild. Ich glaube nicht, dass ich, wenn mein Vater Zahntechniker gewesen wäre, heute im Labor sitzen und bohren würde, aber er hat mich auf jeden Fall sehr beeinflusst. Ich habe das Musikalische von ihm bekommen. Er war mein Alles, aber nichts ist für immer, alles ist vergänglich. Das habe ich in den letzten Jahren schmerzlich erfahren müssen. Das Album war für mich hier ein wichtiges Ventil, ohne dass es sich dabei um ein Seelenstriptease handelt. Ich denke, ich habe es ganz gut geschafft, nicht nur meine Geschichte zu transportieren. Denn nach meiner Auffassung besteht die Kunst im Songwriting darin, die Texte so zu formulieren, dass der Zuhörer sich damit identifizieren kann, ohne dass man ihm dabei die Geschichte vorwegnimmt. Man soll noch genug Spielraum für die eigene Fantasie haben. Aber ja, ich habe mich auf diesem Album von meinem Vater verabschiedet und ich habe den Tag, an dem er ging, vertont. Es ist für mich Teil des Prozesses, den wir alle irgendwann einmal durchmachen müssen.

E+P: Ihr Vater wuchs in Israel auf und war jüdischen Glaubens. Inwieweit sind Sie jüdisch erzogen worden?

Gil Ofarim: Zunächst einmal werde ich jeden Morgen daran erinnert, dass ich Jude bin, wenn ich auf die Toilette gehe und nach unten schaue. Ich war außerdem in einem jüdischen Kindergarten und habe anschließend die Sinai-Grundschule in München besucht. Wir sind säkulare Juden, wir sind nicht orthodox. Wir feiern Sabbat, was nicht bedeutet, dass das Leben bei uns stillsteht. Am Freitagabend kommt die Familie zusammen, man zündet zwei Kerzen an, man bricht das Brot, man teilt es und man isst zusammen. Das ist ein schöner Brauch, das haben wir immer gemacht und so handhaben wir es auch heute noch. Natürlich haben wir auch die hohen Festtage gefeiert ­– wie Jom Kippur oder Chanukka. Chanukka ist ja im Grunde wie das Weihnachten bei den Christen: Hier kommen auch die säkularen Christen zusammen, essen und überreichen sich Geschenke. So ist es bei uns auch.      

E+P: Sie sind selbst Vater. Ist es Ihnen wichtig, dass Ihre Kinder jüdische Traditionen erleben?

Gil Ofarim: Mir ist es wichtig, dass meine Kinder die Welt selbst mit eigenen Augen sehen, ich will ihnen nichts aufzwingen. Was wir aber schon machen, ist, vereinzelte jüdische Bäuche auszuführen: den Sabbatabend feiern oder an Chanukka die Chanukkia anzünden. Das ist der Kronleuchter des Lichterfests. Als der Tempel zerstört wurde und die Juden diesen wieder zurückerobert hatten, war nur noch ein kleines Fässchen Öl unbeschadet übrig. Und dieses Fässchen hielt acht ganze Tage und deswegen feiern wir das Wunder von Chanukka und zünden jeden Abend eine Kerze an. Man isst in Fett Gebackenes, also wir essen Krapfen, Sufjanijot, wie man bei uns sagt, und wir spielen Dreidel. Es sind so die kleinen Dinge, die ich den Kindern mitgebe ­– was schön ist. Wenngleich ich aber eben kein streng religiöser Mensch bin. Ich bin tolerant und offen auch anderen Religionen gegenüber.

E+P: Tatsächlich entdeckt man bei Ihnen Elemente verschiedener Religionen: Sie tragen den Davidstern um den Hals, Sie haben ein Tattoo der hinduistischen Gottheit Ganesha, sie covern Weihnachtslieder… Welchen Stellenwert hat Religion für Sie?

Gil Ofarim: Einen Stellenwert hat für mich das Positive im Leben. Was ich schlimm finde, sind der Fanatismus und die Engstirnigkeit, die besagen „Meins ist das Beste und das Andere ist schlecht“. Das ist wie bei den Hooligans im Fußball. Es gibt in allen Religionen etwas Gutes, von dem man profitieren kann: die Nächstenliebe, „Du sollst nicht lügen“, „Du sollst nicht morden“. Das vertreten alle. Warum soll man also als Jude nicht Weihnachtslieder singen können? Ich bin schließlich in einem Land aufgewachsen, in dem das Christentum den Kalender bestimmt. Warum soll ich kein Tattoo von Ganesha auf dem Arm haben? Mir wurde zwar auf einer Schiffsreise von indischen Gästen gesagt, dass das Gotteslästerung sei, was mir natürlich leidtut, weil ich das nicht wusste – das wollte ich nicht. Aber für mich persönlich: Ich finde, es ist ein wunderschönes Motiv. Ich bin da nicht so engstirnig und ich würde mir niemals erlauben, jemanden für seine Religion zu kritisieren. Du sollst deinen Nächsten lieben.

E+P: Gab es Situationen in Ihrer Kindheit, in denen Ihnen Ihre jüdische Identität besonders bewusst wurde?

Gil Ofarim: Das passierte, als der Wechsel von der Grundschule ins Gymnasium kam. Ich bin in einer jüdischen Gemeinde in München aufgewachsen. Ich ging in den jüdischen Kindergarten und danach auf eine jüdische Grundschule. Damals gab es noch kein jüdisches Gymnasium in München, also kam ich in der fünften Klasse auf ein städtisches Gymnasium. Ich werde nie vergessen, als es hieß, jetzt sei Religionsunterricht: Meine Klasse verließ den Raum und teilte sich in eine evangelische und eine katholische Gruppe auf. Ich wusste gar nicht, was da los war, weil ich darauf nicht vorbereitet worden war. Zehn Sekunden später stand ich alleine auf dem Flur und dachte: Wo sind alle?

Mit Antisemitismus hatte ich viele, viele Berührungspunkte in meinem Leben. Ich wurde oft für meine jüdischen Wurzeln beleidigt und beschimpft. Ich habe es nicht verstanden, aber was ich dann verstand, war, warum mein Leben bis dahin so war, wie es war. Warum ich in eine Schule ging, in der schwer bewaffnete bayerische Polizisten das Schulgelände sicherten. Das war nicht so, dass wir als Kinder deswegen Angst hatten, denn wir kannten es ja nicht anders und die Polizisten waren auch sehr freundlich und haben uns immer gegrüßt. Als ich dann auf das Gymnasium kann und wir über unser Leben und unsere Religion sprachen, hörte ich sehr viele Witze über Juden. Ein Mitschüler, der mich provozieren und beleidigen wollte, sagte einmal zu mir, ob ich wüsste, dass Dachau nicht weit weg von hier wäre, und ob ich nicht lieber dort sein sollte. Ich hatte auch Hundekot in meinem Briefkasten gehabt. Jedes Mal, wenn ich irgendetwas auf meinen sozialen Kanälen poste, erhalte ich Beleidigungen. Das ist ein dringendes Thema: Das Internet liefert den ganzen Antisemiten, Rechtsextremen, Fremdenfeindlichen, schlicht: den Vollidioten, ein Sprachrohr, um anonym ihre krankhaften Ideologien herauszulassen und damit andere Menschen zu beleidigen.      

E+P: Wo müsste man Ihrer Meinung nach ansetzen, um dem Antisemitismus wirksam entgegenzusteuern? Wäre es – mit Blick auf die Gefahren des Internets – in der Strafverfolgung am wichtigsten?

Gil Ofarim: Ich habe keine einfache Lösung dafür, zumal ich weder Jurist noch Politiker bin. Was ich jedoch zunächst festhalten möchte: Ich wurde in den letzten Jahren oft gefragt, ob der Antisemitismus in Deutschland wieder verstärkt auftritt oder ob sich gerade eine neue Bewegung formiert. Ich sage dazu: Nein, der Antisemitismus war schon immer da. Man kann ihn jetzt nur besser sehen.

Ich fand die Rede von der ehmaligen Präsidentin des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, im Bundestag großartig, bewegend und sehr wichtig. Unsere Generation hatte noch die Möglichkeit, Zeitzeugen kennengelernt zu haben, mit ihnen sprechen zu können und direkt ihre Geschichten zu hören, die Alpträume, die sie bis heute noch haben. Viele konnten jahrelang nicht darüber sprechen. Frau Knobloch hat es am eigenen Leib erlebt. Ich verneige mich vor ihr, dass sie dort steht und mit zittriger Stimme erzählt – dass sie ihre Erlebnisse weitergibt, um die schlimmste Konsequenz des Antisemitismus aufzuzeigen und um an die sechs Millionen zu erinnern.

Und ich finde es gut, dass sie die Herrschaften auf der ganz rechten Seite des Plenarsaals direkt angesprochen hat, ohne ihre Namen zu nennen. Es ist eine Unverschämtheit, dass einige dieser Personen am Ende der Rede demonstrativ nicht reagiert, geschweige denn applaudiert haben. Zweifellos kommt für mich die Frage nach einem Parteienverbot auf, aber dann kommt möglicherweise eine andere, die ähnliche Ziele verfolgt. Unbedingt aber müssen Hass, Drohungen und persönliche Angriffe im Internet strafrechtlich belangt werden können. Hier gibt es dringenden Handlungsbedarf. Wie gesagt, eine einfache Lösung gibt es auf diese Frage wohl nicht.

E+P: Sie saßen bereits in der Jury der „Jewrovision“ oder sind beim „Israeltag“ in Düsseldorf aufgetreten. Was ist Ihrer Meinung nach das Besondere an diesen Veranstaltungen?

Gil Ofarim: Das Besondere an solchen Events ist zum einen, das jüdische Leben zu feiern, es als Teil der deutschen Gesellschaft und Kultur bewusst zu machen, und zum anderen, jüdische Menschen aus anderen Städten zu treffen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Das Tolle ist auch, Menschen zu erreichen, die aus Neugierde kommen und die dann zum Beispiel das dämliche Stereotype, dass wir alle Männer mit Pejes, langen Bärten und Hüten oder Frauen mit Perücken wären, abbauen können. Das jüdische Leben in Deutschland ist bunt, es ist lebensbejahend. Menschen können an einem „Israeltag“ erkennen, dass Deutschland viel mehr ist als nur diese Schublade oder diese Schublade.

E+P: Sie haben in Ihrer Kindheit selbst zeitweise in Israel gelebt, haben Verwandtschaft dort und sind letztes Jahr beim Fernsehformat „Free European Song Contest“ für Israel angetreten. Bei dieser Show sangen Musikerinnen und Musiker jeweils für ein Land, zu dem sie einen persönlichen Bezug haben. Welche Bedeutung hat Israel für Sie?

Gil Ofarim: Ich habe das große Glück, zwei Orte dieser Welt meine Heimat nennen zu dürfen. Das ist zum einen München. Ich liebe mein München, ich bin hier geboren. Genauso ist aber auch dieses kleine Fleckchen im Nahen Osten namens Israel meine Heimat. Ich habe dort Familie, ich habe dort gelebt, ich bin dort auch aufgewachsen, ich spreche Hebräisch, habe es zu lesen und zu schreiben gelernt. Ich liebe das Land und verbinde nur Gutes damit. Und es ist zum Glück nicht weit entfernt: Man steigt in München in den Flieger und ist in dreieinhalb Stunden dort. Natürlich, einerseits wird gesagt, es sei ein Kriegsgebiet. Aber anderseits ist es ein pulsierendes Land mit viel Tradition, mit viel Kultur, mit vielen Farben. Es ist sozusagen auch das San Francisco des Nahen Ostens, es gibt eine große Schwulen- und Lesbenbewegung mit einer breiten Akzeptanz dort. Ich freue mich jedes Mal, dort zu sein – und genauso freue ich auch jedes Mal, nach München nach Hause zu kommen.

E+P: Um mit dem positiven Grundton ihres aktuellen Albums zu enden, wonach das „Wünschen was bringt“: Was wünschen Sie sich für künftige Generationen im Hinblick auf das Zusammenleben mit unterschiedlichen Identitäten?

Gil Ofarim: Gerade in Bezug auf den Antisemitismus in Deutschland haben wir eine ganz große Verantwortung. Viele meinen, das „Dritte Reich“ und die entsprechenden Denkmuster endeten im Mai 1945, aber wir wissen, dass viele Personen, die davor eine Funktion hatten, danach wieder Funktionsträger waren. Wir, damit meine ich unsere Generation, sind jetzt in der Verantwortung. Ich bin ein junger Vater und habe das große Glück, zwei Kinder zu haben. Das, was ich, was wir an die Kinder weitergeben, ist zentral, denn das formt die Zukunft unserer Gesellschaft. Kinder kommen nicht mit irgendeiner Gesinnung oder irgendeiner Ideologie auf die Welt. Unsere Generation muss sich bewusst sein, dass wir durch unser Vorbild prägen und achtsam entscheiden müssen, was wir ihnen mitgeben wollen.

Das Land ist bunt. Wenn wir auf die Asylkrise von 2015 blicken, dann sollten wir meines Erachtens eine Riesenchance sehen. Ob das jetzt schwieriger wird, weil Menschen kommen, die Demokratie und Gleichberechtigung zum Teil noch nicht so sehr verinnerlicht haben, ist nicht die Frage. Es ist unsere große Möglichkeit, Menschen mit unterschiedlichen Kulturen, mit unterschiedlichen Identitäten zusammenzubringen. Wir können und müssen Konsens, Kooperation und Integration übern. Das empfinde ich als unsere zentrale Aufgabe.

Ich werde auch nicht müde zu sagen, dass wir viele Probleme haben, die wir angreifen müssen. Neben dem Antisemitismus existiert in unserer Gesellschaft leider auch eine starke Homophobie und bei einer tatsächlichen Gleichberechtigung sind wir noch längst nicht angekommen. Aber: Es liegt an uns. Wir können echt viel reißen.  

Interview: Markus Baar
 

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