Themenforum Flucht und Vertreibung

Das Erbe der Vertreibung

Über Generationen hinweg: Das Erbe der Vertreibung – Traumata, Verhaltensmuster, Mentalitäten

von Helga Hirsch

Bild:
Ankunft im bayerischen Grenzdurchgangslager Furth im Wald um 1946. Allein 1946 wurden dort mehr als 650.000 Menschen versorgt. Die meisten von ihnen kamen in Güterwaggons aus dem Sudetenland. Foto: picture-alliance /dpa/Fotoreport Stadtarchiv Furth im Wald

I.

„Es gibt ein Leben nach der Flucht“, weiß der Schriftsteller Ilja Trojanow, der als Kind mit seiner Familie aus dem kommunistischen Bulgarien nach Deutschland floh. Flucht ist nicht das Ende, will er trösten, nach der Flucht steht ein neuer Anfang. Doch sein Trost bleibt schwach, halbherzig, durchdrungen von Zweifel. Denn Trojanow schränkt gleich ein: „Die Flucht wirkt fort, ein Leben lang. Unabhängig von den jeweiligen individuellen Prägungen, von Schuld, Bewusstsein, Absicht, Sehnsucht. Der Geflüchtete ist eine eigene Kategorie Mensch.“ Menschen dieser speziellen Kategorie, so suggeriert Trojanow, sind unter ein Joch gezwungen, das sich zeitlebens nicht abschütteln lässt.  „Nichts an der Flucht ist flüchtig. Sie stülpt sich über das Leben und gibt es nie wieder frei.“ [1]

Die Erfahrungen scheinen sein Urteil zu bestätigen. Wir lesen die Bücher der Nobelpreisträgerin Herta Müller: Selbst nach Jahrzehnten in Deutschland taucht sie in ihren Romanen immer noch und immer wieder in das repressive Ceausescu-Regime ein – in die Welt totalitärer Willkür und Repression, der sie als junge Erwachsene entfloh. Wir verfolgen andere Schriftsteller, die in ihren Büchern ebenfalls in ihre Herkunftsländer zurückkehren - nach Jugoslawien, in die Ukraine, nach Syrien oder nach Afrika, in Länder, aus denen Gewalt, Verfolgung und Armut sie vertrieben. Eben: Flucht „stülpt sich über das Leben“, Flucht drängt sich in das Heute und fordert Aufmerksamkeit für das Gestern, selbst wenn der Heimatverlust viele Jahre zurückliegen mag.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und noch einige Jahrzehnte danach dominierte  in Deutschland eine gänzlich andere Sichtweise. Anfangs ließ sich zwar nicht leugnen, dass sich die Schrecken der Flucht bei vielen der zwölf Millionen Flüchtlinge in Deutschland Ost und West festgesetzt, sie sogar krank gemacht hatten, körperlich und seelisch. Es war allzu offensichtlich. Bei Untersuchungen von Flüchtlingskindern Ende der 1940er Jahre etwa stellte man nicht nur Untergewicht, Eiweißmangel, schlechte Zähne und eine besondere Anfälligkeit für infektiöse Krankheiten wie Tuberkulose fest. Diese Kinder waren auch schweigsam, ernst, misstrauisch, und sie litten unter Konzentrationsstörungen, Alpträumen, Sprachstörungen und Kopfschmerzen.[2] Es dauerte jedoch nur wenige Jahre und man glaubte, aufatmen zu können. Die Auffälligkeiten waren verschwunden. Mangelernährung und traumatische Erfahrungen, so lautete nun das Urteil, ziehe keine dauerhafte Beeinträchtigung nach sich.[3] Menschen in Extremsituationen seien stark belastbar, speziell Kinder würden über eine außerordentliche Elastizität verfügen und nicht grundlegend zu erschüttern sein.

Außerdem galt: Hatten nicht viele Schreckliches erlebt? Hatten manche nicht sogar noch Schrecklicheres erlebt? War Schreckliches nicht „normal“ gewesen in jener Zeit? Und war die aktive Teilnahme von Flüchtlingen am Wirtschaftswunder nicht der handfeste Beweis dafür, dass Schreckliches den Menschen nicht brechen konnte? Zeitungen meldeten Erfolgsgeschichten von „Häuslebauern“ und Firmengründern, die mit nichts als einem Rucksack angekommen waren. Doch um 1970 unterschied sich der Lebensstandard von Vertriebenen nicht mehr von jenem der Einheimischen. Dem Stolz von Poli­tikern – „Wir haben sie integriert!“ - entsprach der Stolz der Be­troffenen: „Wir haben es geschafft!“

In den Folgejahren stellte sich jedoch heraus, dass die Annahme einer gelungenen Integration voreilig war. Sozialer Aufstieg allein ließ Sudetendeutsche, Pommern, Bessarabiendeutsche oder Schlesier noch nicht in ihren neuen Wohnorten ankommen. Bayerische, hessische oder sächsische Traditionen blieben besonders älteren Menschen auch nach Jahrzehnten noch fremd, die Trauer um die alte Heimat war keineswegs überwunden. Die DDR- Schriftstellerin Christa Wolf beobachtete Mitte der 1970er Jahre: Die Alten „alterten in Wochen um Jahre, starben dann, nicht schön der Reihe nach und aus den verschiedensten Gründen, sondern alle auf einmal und aus ein und demselben Grund, mochte man ihn Typhus nennen oder Hunger oder ganz einfach Heimweh, was ein überaus triftiger Vorwand ist, um daran zu sterben."[4]

Als bei Holocaust-Überlebenden und Veteranen des Zweiten Weltkriegs systematische Forschungen über die psychischen Spätfolgen von Krieg und Vernichtungspolitik begannen, schälten sich bald typische Symptome heraus. Die Betroffenen litten unter Depressionen, Angstzuständen, unter wiederkehrenden, verstörenden Erinnerungsfetzen oder chronischen psychosomatischen Schmerzen. Außerdem hatten sie zum Teil eine emotionale Abgestumpftheit entwickelt, die sie instinktiv Situationen vermeiden ließ, die an das auslösende Ereignis erinnerten. In den 1980er Jahren wurde, von den USA ausgehend,  das „Posttraumatische Belastungssyn­drom“ (PTSD – Posttraumatic Stress Disorder) als Krankheit bei Menschen anerkannt, die in Lebensge­fahr geschwebt hatten oder Zeugen lebensbedrohlicher Situationen gewesen waren.

Dass auch deutsche Flüchtlinge und Vertriebene traumatisiert oder doch psychisch tief verletzt sein könnten, geriet so recht allerdings erst Anfang der 1990er Jahre ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit, als über dreihunderttausend Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina in Deutschland aufgenommen wurden. Erst dann wurde vielen Angehörigen der zweiten Generation die moralische Doppelbödigkeit bewusst, die gegenüber verschiedenen Flüchtlingsgruppen herrschte. Wieso wurde vergewaltigten Frauen aus Bosnien und Herzegowina widerspruchslos und selbstverständlich psychologische Hilfe gewährt, den deutschen, bei Kriegsende ebenfalls vergewaltigten und traumatisierten Müttern und Großmüttern das Mitgefühl jedoch nach wie vor verweigert? Gab es bessere und schlechtere Flüchtlinge? Solche, die unsere Empathie verdienten und solche, die uns peinlich waren? Immerhin überwanden ältere Frauen damals zum Teil ihre Scham – galten Vergewaltigungen doch als Schmach, die es vor der Familie und der Umwelt zu verbergen galt - und meldeten sich in den Praxen von Schmerztherapeuten und Psychotherapeuten. Nach mehreren Jahrzehnten waren sie bereit, sich den neu erkannten Zusammenhängen zwischen chronischen Beschwerden und nicht verarbeiteten Erlebnissen zu stellen.
 

II.

In Deutschland lassen sich deutlich drei Phasen im Umgang mit Flucht und Vertreibung unterscheiden. In den 1950er Jahren wurde sehr laut und weitgehend unwidersprochen darüber geklagt, wie Deutsche unter Bombenangriffen, Krieg, Gefangenschaft und eben auch unter Flucht und Vertreibung gelitten hätten – Deutsche sahen sich als Opfer. Auch die westlichen Alliierten widersprachen diesem Narrativ nicht, fügte es sich doch reibungslos in die antikommunistische Propaganda im Kalten Krieg. Man lenkte von eigenem Versagen ab und verwies auf andere: Hatten die Rotarmisten bei ihrem Vormarsch in Ostdeutschland nicht noch schlimmer gehaust als die Wehrmacht in der Sowjetunion?

Selbst wo ganz abstrakt eine Schuld des NS-Regimes eingeräumt wurde, blieb dies Eingeständnis folgenlos. Konkret Schuldige wurden nicht benannt. Eine Verfolgung einzelner Täter begann erst in den 1960er Jahren, und auch das meist noch gegen erhebliche Widerstände. Erst mit dem Fernsehfilm „Holocaust“, der in Deutschland 1979 ausgestrahlt wurde, setzte sich im Urteil der Öffentlichkeit über den Zweiten Weltkrieg mehr und mehr das Narrativ vom deutschen Täter durch. Das Pendel schlug nun allerdings zur anderen Seite aus, der Holocaust wurde zu einer Art negativem Gründungsmythos der Bundesrepublik – mit gravierenden Folgen für den Umgang mit Flucht und Vertreibung.

Waren sich die großen Parteien und die übergroße Mehrheit der Gesellschaft in den 1960er Jahren noch einig gewesen: „Dreigeteilt – niemals!“, so galt der Heimatverlust gut zehn Jahre später als nahezu gerechte Strafe für die deutschen Verbrechen. Der Verzicht auf die Erinnerung an deutsches Leid schien der Preis, der für die Verständigung mit den Opfern des NS-Regimes zu zahlen war. Vertriebene Eltern wurden von den Söhnen und Töchtern oft nur noch pauschal als Angehörige eines Tätervolks wahrgenommen. Mit Tätern aber durfte es keine Empathie geben und Tätern durfte keine Trauer zugestanden werden. Empathie für die Opfer der Deutschen schloss Empathie für die deutschen Opfer aus. „Fu¨r mich entstand schon als 12-Ja¨hrige, nachdem ich voller Erschu¨tterung ‚Das Tagebuch der Anne Frank’ gelesen hatte, ein eigenes Gefühlsverbot: Ich durfte nicht um all das trauern, was verloren war“, so eine Vertriebene über die weit verbreitete Auffassung. „Ich musste es innerlich als ‚Gerechtigkeit’ des Schicksals anerkennen, weil ‚wir’ Anne Frank und alle anderen ermordet hatten.... Es war ein Konflikt, der fu¨r mich als Kind und Jugendliche quälend und unlösbar war, über den ich nicht sprechen konnte, weil Leid und Schuld und Scham zu verknotet und verworren in mir rumorten und, wie ich es heute sehe, dieses Gefühlstabu auch von der älteren Generation ausging. Statt zu fühlen und zu weinen galt es, ‚Contenance’ zu wahren.“[5]

So entstand eine Situation, in der Trauer aus „edlen“ Motiven abgespalten wurde, dadurch aber nie an ein Ende kam, ständig unter der Oberfläche lauerte und wie eine nicht verheilte Wunde aufzubrechen drohte. Günter Grass räumte später selbstkritisch ein: „Niemals hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und die bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen.“ Dieses Versäumnis, so Grass, sei bodenlos.[6]

Ende des 20. Jahrhunderts wurde diese dichotomische Sichtweise schließlich durchbrochen. Mit Macht kehrte das Thema Flucht und Vertreibung noch einmal in die deutsche Öffentlichkeit zurück. Zum einen lag dies an den veränderten politischen Umständen. Der Kommunismus war zusammengebrochen. In der DDR war mit der Mauer auch das Tabu gefallen, das jegliche Beschäftigung mit verlorenen Heimaten untersagt und jede eigenständige Organisierung von Heimatvertriebenen verboten hatte. Zudem hatte das wiedervereinigte Deutschland im Grenzvertrag mit Polen die Unverletzlichkeit der bestehenden Grenze garantiert. Europa war wieder geeint - die Grenzen waren offen, auch zu jenen Gebieten, die für Deutschland nicht nur für ewig verloren waren, sondern auch auf ewig unerreichbar schienen.

Ein regelrechter Heimattourismus setzte ein. Ganze Familien brachen auf zu Erkundungsreisen in die Heimat der Vorfahren in Polen, in der Tschechoslowakei, in Ungarn oder auch in Jugoslawien. Nicht der Wunsch nach Rückgabe ehemaligen Besitzes oder zumindest nach Reparationen trieb die Reisenden. Fast alle kamen vielmehr als Besucher und als Bittende, die hofften, einen Blick in die einstigen Elternhäuser werfen zu dürfen. Sie wollten die Geschichte nicht wieder zurückdrehen und altes Unrecht nicht mit neuem Unrecht „wiedergutmachen“; deutsches Leid sollte auch nicht gegen das Leid anderer aufgerechnet werden. Vielmehr ging es darum, die weißen Flecken in den Familienbiographien zu füllen, Trauer zuzulassen und – vielleicht – seinen Seelenfrieden finden zu können.

Nun wurde denkbar: Dass, wer die deutsche Schuld anerkennt, deutsches Leid nicht leugnen muss, dass Schuld und Leid - historisch wie in den Biografien -  nur unterschiedliche Facetten ein- und derselben deutschen Geschichte sind. Deutsche, obwohl einem „Volk der Täter“ zugehörig, sind auch Opfer geworden – die Opfer der Opfer. Mag sich im kollektiven Gedächtnis der Deutschen auch der Holocaust als dominante Erinnerung durchgesetzt haben, so lassen sich die Leidensgeschichten in den deutschen Familien nicht aus der Welt schaffen. „Es gibt Erfahrungen“, schrieb der Historiker Reinhard Kosellek fünfzig Jahre nach Kriegsende, „die sich als glühende Lavamasse in den Leib ergießen und dort gerinnen. Unverrückbar lassen sie sich seitdem abrufen, jederzeit und unverändert.“[7]  Den Menschen diese Erinnerungen und Gefühle abzusprechen, hieße, einen Teil ihrer Identität auszulöschen.

Bevor diese Sichtweise allerdings auf breitere Zustimmung stieß, galt es so manchen Gegenwind zu überwinden: In Deutschland, wo sich Protest in liberalen und linken Kreisen regte, weil die Auffassung von Deutschen als Opfern angeblich rechtsradikalen Positionen Vorschub leiste. Und in Polen, wo die Angst herrschte, es fände eine Relativierung deutscher Schuld statt und das Leid der Polen werde (noch mehr) verdrängt. Nach teilweise äußerst emotionalen Debatten werden derartige Bedenken inzwischen allerdings nur noch vereinzelt geäußert. Ansonsten wird der Zweite Weltkrieg innerhalb und außerhalb Deutschlands akzeptiert als untrennbare Einheit von der Schuld, die die Deutschen auf sich geladen haben, und dem Leid, das ihnen als Antwort darauf zugefügt wurde.
 

III.

  Im Unterschied zu den 1950er Jahren wurde die Erinnerung an Flucht und Vertreibung in den 1990er Jahren wesentlich nicht mehr von den unmittelbar Betroffenen, sondern von den Nachgeborenen geprägt. Von Angehörigen der zweiten Generation wie dem Journalisten Paul Pokriefke, dem Ich-Erzähler in Günter Grass’ Bestseller „Im Krebsgang“, die den Krieg entweder gerade noch als Kinder erlebt hatten oder erst in den Nachkriegsjahren geboren worden waren. Sie näherten sich dem Rentenalter. Der Druck des Berufslebens ließ nach, der Wunsch nach einer gewissen Lebens-Bilanzierung wuchs. Was Jahre oder gar jahrzehntelang ausgeklammert, verdrängt oder gering geschätzt worden war, weil es bedrohlich schien, da es hätte verunsichern können, drängte nun stärker ins Bewusstsein. Uwe-Karsten Heye beispielsweise, der ehemalige Regierungssprecher von Bundeskanzler Gerhard Schröder, wagte endlich, jene eng beschriebenen Seiten zu lesen, die ihm seine Mutter kurz vor ihrem Tod überlassen hatte - fünfzehn Jahre hatten sie ungelesen unter seinen Papieren gelegen. „Ich habe diese Seiten wie einen Schatz gehütet. Unfähig, ihn zu heben.... Ich ahnte den Schmerz, der sich darin verbarg. Ich ahnte, dass ich zu warten hatte, bis ich die Kraft haben würde, diesen Schmerz zu ertragen.“[8]

Psychologen, die sich ebenfalls dem Zeitgeist gebeugt und der Flucht keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatten, unterstützten nun die Selbsterkundungsprozesse von Söhnen und Töchtern aus vertriebenen Familien. Der Psychologe Michael Ermann rief an der Ludwig-Maximilians-Universität in München das Projekt „Europäische Kriegskindheit im II. Weltkrieg und ihre Folgen“ ins Leben und führte die damals umfangreichsten Studien mit Angehörigen der Jahrgänge 1933 bis 1945 durch.[9] Eine Flut von Romanen, autobiographischen Erzählungen und Reportagen von Angehörigen der zweiten, später auch der dritten Generation förderte ebenfalls Erlebnisse und Prägungen ans Tageslicht, die die Not von Eltern (meist Müttern) als Not der Kinder erkennbar werden ließen.[10]  Sie habe die „Alpträume eines anderen“, gestand die Schriftstellerin Ulrike Draesner in ihrem Roman „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“. „Ein Stück kopiertes Leben im eigenen. Oder andersherum: eigenes Leben, umschlossen von Kopierten… Je älter ich wurde, umso deutlicher begriff ich, dass das nicht aufhören würde. Im Gegenteil.“[11]                              

Inzwischen haben psychologische und soziologische Studien typische Prägungen von Vertriebenenkindern zutage gefördert. Da ist zunächst die Tatsache, dass Flüchtlingskinder häufig zu Außenseitern wurden, die weder im Osten noch im Westen Deutschlands willkommen waren. Mochten sie auch Landsleute sein, so waren sie doch fremd. Sie sprachen anders, kleideten sich anders, aßen anders. Der aus Schlesien stammende Lothar Plüschke erinnerte sich beispielsweise an die „Dresche“, die er und andere „Pollackenschweine“ immer wieder in einem kleinen Ort in Sachsen-Anhalt bezogen: „Es gab sogar ‚Kinderkrieg’ – da kämpften die Flüchtlingskinder gegen die Einheimischen, ..., hart und unerbittlich mit den Pistolen und der noch scharfen Munition, die die Sechs- bis Zwölfjährigen auf den ehemaligen Kampffeldern in den Elbwiesen fanden und mit denen sie sich nicht selten verletzten.“[12]

Um der Ausgrenzung in der „Kalten Heimat“ [13] zu entgehen, unternahmen Flüchtlingskinder große Anstrengungen zur Anpassung. Sie bemühten sich, in bayerischem, württembergischem oder sächsischem Dialekt zu reden, um für ihren schlesischen nicht mehr als ‚Saupreiß’ beschimpft zu werden. Sie drängten ihre Mütter, die alte Tracht der Ungarndeutschen abzulegen, um in Hessen nicht mehr als ‚Zigeuner’ verachtet zu werden. Sie hörten auf, die alte Heimat zu erwähnen, tauchten in Sportvereinen unter und heirateten Einheimische. Bei einigen trat sogar eine Erinnerungsverweigerung an die Kultur und Sprache der Eltern auf. So gerieten sie in einen inneren Spagat: Auf der einen Seite stand der eigene Anpassungswunsch, auch die Eltern wollten einerseits mit ihren Kindern beweisen, dass ‚wir aus dem Osten so gut sind wie die Einheimi­schen’. Andererseits aber galt die Verleugnung der Vertriebenentradition als Loyalitätsbruch, als Verrat an der Familie.[14] Es gab keine gute Lösung: Wer sich dem neuen Umfeld verweigerte, fand nur schwer Anschluss an die neue Umgebung. Wer die alte Familientradition aufkündigte, fühlte sich schuldig gegenüber den Eltern. (Eine Konstellation im Übrigen, die fast allen Flüchtlingen und Migranten weltweit vertraut sein dürfte und heute in Deutschland neue Relevanz erhalten hat.)

Die Illoyalität gegenüber der Familie wog umso schwerer, als viele Kinder ihre psychisch aus dem Gleichgewicht geratenen Eltern – meist die Mütter – stabilisieren mussten. Kindern fiel nicht selten eine Elternrolle gegenüber den eigenen Eltern zu - die Psychologie spricht von Parentifizierung. Diese Kinder besaßen nicht den Mut, die Eltern mit ihren Ohnmachts-, Scham- und Schuldgefühlen allein zu lassen. Oft blieben sie bis ins Erwachsenenleben an sie gebunden. Die Mutter von Dagmar D. beispielsweise hatte die Flucht mit ihren drei Kindern noch mit letzter Kraft geschafft. Dann wurde sie Alkoholikerin, lag mit Gedächtnisstörungen im Krankenhaus und brach zusammen, als ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann aufflog - und durch den Skandal endete. Die Tochter, obwohl selbst äußerst labil, wurde zur Mutter ihrer Mutter.[15] Heimlich entsorgte sie die Weinflaschen, führte neben der Schule den vierköpfigen Haushalt und unterbrach später ihr Studium, um die Mutter in der Beziehungskrise aufzufangen.

Flüchtlingskinder mussten aufgrund der Umstände schneller als ihre einheimischen Altersgenossen erwachsen werden. Sie hatten mit für den Lebensunterhalt aufzukommen und hohen Erwartungen an ihre Leistungsbereitschaft gerecht zu werden. „Wir hatten keine andere Chance“, sagte Lothar Plüschke, „als uns über schulische und körperliche Leistungen zur Wehr zu setzen und zu etablieren.“ Fast immer gehörten Vertriebenenkinder zu den ersten, die aus kleinen Orten auf die Oberschulen in die Kreisstädte gingen. ‚Was du gelernt hast‘ – so hörte wohl jedes Flüchtlingskind von seinen Eltern – ‚das kann dir keiner mehr nehmen‘. Wissen, schulischer und beruflicher Erfolg waren die wichtigsten Gegengewichte zu den mit Besitz gesegneten Einheimischen, und die beste Versicherung für eventuelle künftige Verluste. Vertriebenenkinder wurden so oft erfolgreich im Beruf, traten allerdings unsicherer und ängstlicher auf als ihre einheimischen Kollegen, gingen seltener Konflikte ein, waren weniger durchsetzungsfreudig – und standen so meist in der zweiten Reihe. Sie fürchteten, Aufmerksamkeit und Neid auf sich zu lenken. Denn das hatten sie zuhause gelernt: Nur nicht auffallen! „Ihr mit eurem Blöden=Zwang, !bloßja!nicht !aufzufallen“,  brüllt der junge Ich-Erzähler in Reinhard Jirgls stilistisch eigenwilligem Roman "Die Unvollendeten"  denn auch seine Großmutter an. „Im-Grund brüllte ich gegen mich selber, gegen Das, was ich in=mir wußte von dieser ver!fluchten Bescheidenheit . . . die ich von diesen Flüchtlingen geerbt hatte wie nen seelischen Buckel."[16]

In abgeschwächter Form sind derartige Lebenseinstellungen noch an die dritte Generation weitergegeben worden. Auch die Enkel von Flüchtlingen und Vertriebenen nehmen die eigenen Bedürfnisse oft nicht besonders ernst. Auch sie sind leistungsorientiert und pflichtbewusst, scheuen aber ebenso, sich besonders zu exponieren.[17] In der Regel ist ihr Wissen über die historischen Ereignisse noch geringer als bei ihren Eltern. Gleichzeitig kann ihnen aufgrund größerer zeitlicher und psychischer Distanz aber auch eine vertiefte Auseinandersetzung gelingen. Erleichtert wird dies dadurch, dass die Archive der mitteleuropäischen Staaten seit 1989 zugänglich sind. Susanne Fritz beispielsweise findet im polnischen Bydgoszcz/Bromberg die Akte ihrer Mutter, mit Fingerabdruck und genauer Buchführung über deren jahrelangen Aufenthalt in einem polnischen Arbeitslagern und deren Einsatz zur Zwangsarbeit – als Strafe für ihre Zugehörigkeit zur deutschen Minderheit.[18] Rekonstruktionen von Familiengeschichten erweisen sich somit nicht nur als psychologische Tiefenbohrungen im Verhältnis von Kindern/Enkeln zu Eltern/Großeltern, sondern auch als Tiefenbohrungen im deutsch-polnischen oder deutsch-tschechischen Verhältnis.

Ulrike Draesner beispielsweise verknüpft in ihrem Roman die Fluchtgeschichte der eigenen Familie mit der Fluchtgeschichte einer polnischen Familie: Simone, das deutsche Flüchtlingsmädchen, und Boris, der polnische Flüchtlingsjunge, werden ein Paar. Vielleicht, sinniert die Autorin, könnten Deutsche und Polen über Probleme, die aus der Entwurzelung resultieren, einander noch einmal näher rücken. „Das wäre eine Hoffnung, auf die ich auf der anderen Seite stieß, die ich selbst auch habe.“[19] Eine derartige Hoffnung schimmert auch im jüngsten Buch von Andreas Kossert durch. „Flucht“ ist eine „Weltchronik über das Fliehen“, gefüllt mit „Abermillionen ähnlicher Schicksale“.[20] An unzähligen Beispielen belegt Kossert, wie sehr sich „Weggehen“, „Ankommen“, „Weiterleben“ und „Erinnern“ ähneln, unabhängig davon, ob es sich bei den Flüchtlingen um Deutsche, Armenier, Kurden, um Hutu, Jesiden oder assyrische Christen handelt. Kosserts Darstellung liest sich wie eine Untermauerung von Ilja Trojanows These: Flüchtlinge sind eine „eigene Kategorie Mensch“.

Aber erwächst aus gleichem, beziehungsweise ähnlichem Fluchterleben tatsächlich ganz selbstverständlich eine Solidargemeinschaft?

Im Falle von Franz Werfel dürfte die Tatsache seiner jüdischen Abstammung sicher dazu beigetragen haben, dass er eine besondere Sensibilität für das Schicksal der vom Osmanischen Reich vertriebenen Armenier entwickelte und seinen berühmten Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ schrieb. Verfolgung und Vertreibung waren ein Konstituens auch jüdischer Geschichte. Ansonsten lehrt uns die Erfahrung allerdings, dass für Flüchtlinge die Zugehörigkeit zu ihren nationalen, ethnischen oder religiösen Schicksalsgemeinschaften fast immer bestimmender ist als Zugehörigkeit zu einer allgemein menschlichen Kategorie „Flüchtling“. Um beim deutsch-polnischen Verhältnis zu bleiben: Polen, die am Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat in Ostpolen oder  Litauen verloren, fühlten sich in der Regel nicht solidarisch mit deutschen Flüchtlingen. Vielmehr hielten sie die Vertreibung der Deutschen für eine gerechte Strafe für deutsche Verbrechen. Deutsche Flüchtlinge waren daher ungeliebte Nachbarn, ja Feinde, und sie  blieben dies noch jahrzehntelang, fürchtete man doch ihre Rückkehr in die verlorenen deutschen Ostgebiete.

Unterschiedlichen Opfergruppen fehlt es oft nicht nur an Empathie füreinander, nicht selten treten sie sogar in eine Konkurrenz zueinander. So stößt sich ein Teil der Polen bis heute daran, dass im Fall der Deutschen von „Vertreibung“ gesprochen wird, während sich in Polen die euphemistische Sprachregelung aus kommunistischen Zeiten gehalten hat, wonach die Polen nur „umgesiedelt“ oder „repatriiert“ wurden. War der Heimatverlust von Polen etwa weniger schmerzhaft als der von Deutschen? Hatten die meisten deutschen Vertriebenen nicht sogar Glück im Unglück, als sie im demokratischen Westdeutschland landeten, während die polnischen Vertriebenen nach der deutschen unter eine sowjetische Vorherrschaft gerieten?

Eine Konkurrenz der Opfer kann nur überwunden werden, wenn sich die Betroffenen nicht voller Verbitterung verschließen, wenn sie den Willen und die innere Bereitschaft entwickeln, das eigene Leid in den historischen Kontext zu stellen und wenn sie sich dem Leid der anderen wirklich öffnen. Das ist eine intellektuelle Anstrengung, denn es erfordert eine Erweiterung des Wissens. Das ist vor allem aber eine emotionale Herausforderung, denn jeder ist sich in seinem Leid am nächsten – sich und seiner Gruppe. Wer es aber lernt, die Fixierung auf das eigene Leid zu überwinden, der kann die beglückende Erfahrung machen, im anderen, gleich welcher Ethnie oder welchen Glaubens, einem besonderen Verständnis für den eigenen Schmerz zu begegnen. Dann kann tatsächlich Nähe entstehen, denn – wie es der Schriftstellers Ralph Giordano sagte, der als verfolgter Jude Empathie für die deutschen Vertriebenen entwickelte: Die Humanitas ist unteilbar.[21]
 

Fußnoten

[1] Ilja Trojanow: Nach der Flucht: Ein autobiographischer Essay, Frankfurt am Main 2017, S. 9 und 11.

[2] E. Lippelt/C. Keppel: Deutsche Kinder in den Jahren 1947 bis 1950, in: Schweizerische Zeitschrift für Psychologie und ihre Anwendungen, Heft 9, Bern 1950, S. 212 – 322.

[3] Ursula Brandt: Flüchtlingskinder. Eine Untersuchung zu ihrer psychischen Situation, München 1964, S. 80-83 und 151 -154.

[4] Christa Wolf: Kindheitsmuster, München 2002, S. 412.

[5] Astrid von Friesen: Der lange Abschied, Psychische Spa¨tfolgen fu¨r die 2. Generation deutscher Vertriebener, Gießen 2000, S. 9 ff.

[6] Günter Grass: Im Krebsgang, Göttingen 2002, S. 99

[7]Reinhart Kosellek, Glühende Lava, zur Erinnerung geronnen. In: FAZ vom 6. Mai 1995

[8] Uwe-Karsten Heye: Vom Glück nur ein Schatten. Eine deutsche Familiengeschichte. München 2004, S. 13 f.

[9] Interview mit Michael Ermann, Der Körper vergisst nicht, In: Spiegel vom 21.02.2009.

[10] U.a.: Sabine Bode: Die vergessene Generation. Kriegskinder brechen ihr Schweigen,Stuttgart 202014; dies.: Nachkriegskinder, Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter.  Stuttgart 32015; dies.: Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation, Stuttgart 102013; Ulrike Draesner: Sieben Sprünge vom Rad der Welt, München 2014; Tanja Dückers: Himmelskörper, Berlin 2004; Susanne Fritz: Wie kommt der Krieg ins Kind, Göttingen 2018; Christoph Hein: Landnahme, Frankfurt am Main 2005; Helga Hirsch: Schweres Gepäck. Flucht und Vertreibung als Lebensthema, Hamburg 2004; Reinhard Jirgl: Die Unvollendeten, München 2007; Klaus-Jürgen Liedtke: Nachkrieg und Die Trümmer Ostpreußens, Berlin 2018; Thomas Medicus: In den Augen meines Großvaters, München 2004; Rupert Neudeck: In uns allen steckt ein Flüchtling. Ein Vermächtnis, München 2016; Petra Reski: Meine Mutter und ich. München 2004; Roswitha Schieb: Reise nach Schlesien und Galizien; Hans-Ulrich Treichel: Anatolin, Frankfurt am Main 2008; Michael Zeller, Die Reise nach Samosch. 2003. Die Bücher der Journalistin Sabine Bode mit Geschichten von Angehörigen der zweiten und dritten Generation wurden Bestseller.

[11] Ulrike Draesner: Sieben Sprünge vom Rad der Welt. München 2014, S. 19

[12] Interview mit Lothar Plüschke 2008, im Besitz der Autorin.

[13] Andreas Kossert: Kalte Heimat: Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 62009.

[14] Im Übrigen ist der Spagat zwischen Anpassungswunsch und Loyalität gegenüber der Herkunftsfamilie ein Kennzeichen jeder Migration.

[15] Hirsch (wie Anm. 15), S. 20 ff.

[16] Reinhard Jirgl: Die Unvollendeten, Roman, München 2003,  zit. nach: Roswitha Schieb/Rosemarie Zens (Hg), Zugezogen, Flucht und Vertreibung – Erinnerungen der zweiten Generation, Paderborn 2016, S. 14.

[17] Interview mit Ermann (wie Anm. 9).

[18] Susanne Fritz, Wie kommt der Krieg ins Kind?

[19] Katrin Hillgruber: Sieben Personen suchen einen Ort, Interview mit Ulrike Draesner, in: DLF 22.09.2014.

[20] Andreas Kossert: Flucht. Eine Menschheitsgeschichte, München 2020, S. 14.

[21] Zit nach: Andreas Baum, Die vier Leben des Ralph Giordano. DLF Kultur 10.12.2014
 

Auslöschung aller Spuren des Deutschtums

Allerdings war es ein weiter Weg von der Nachkriegszeit zum entspannten Umgang mit den ehemaligen deutschen Einwohnern und der Pflege des deutschen Kulturerbes. 1945 hatte der großangelegte „Bevölkerungsaustausch“ begonnen, wie die kommunistische Führung in Warschau Vertreibung und Zwangsaussiedlung der Deutschen sowie die Ansiedlung von Polen nannte. Diese kamen nicht nur aus den von der Sowjetunion annektierten Regionen, die den Sowjetrepubliken Litauen, Weißrussland und Ukraine zugeschlagen worden waren, sondern auch aus dem zerstörten Warschau.

Weder die deutsche Bevölkerung, noch die amerikanischen und britischen Verbündeten des Kremls wussten, dass Stalin längst über die Zukunft der deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße einschließlich Stettins entschieden hatte: Sie sollten polnisch werden. Moskau hatte am 26. Juli 1944 einen diesbezüglichen Geheimvertrag mit der Provisorischen Polnischen Regierung geschlossen, der vor allem in Moskau geschulte polnische Kommunisten angehörten, darunter der spätere Parteichef Wladyslaw Gomulka. Daher übergab die sowjetische Militärkommandantur im Frühjahr 1945 Schlesien, Pommern, Danzig und den Südteil Ostpreußens offiziell an die polnischen Behörden. Der Nordteil Ostpreußens wurde dagegen zu sowjetischem Territorium erklärt.

Die Verdrängung der Deutschen aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße war 1945 das Hauptziel der vom Kreml eingesetzten neuen polnischen Führung. Bei dieser Politik wurde zwar der Tod vieler Betroffener billigend in Kauf genommen, doch handelte es sich nicht um eine Vernichtungspolitik, es gab weder staatlich durchgeführte Massenmorde, noch Vernichtungslager wie unter der deutschen Besatzung während des Krieges. Zunächst waren sich Politiker aller Lager einig darin, dass mit der Errichtung einer polnischen Verwaltung in den Oder-Neiße-Gebieten die Zeit von Rache und Abrechnung gekommen sei. Sogar katholische Bischöfe verteidigten das Recht der Polen auf Vergeltung und rechtfertigten Vertreibung und Zwangsaussiedlung der Deutschen.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit akzeptierte wohl die überwältigende Mehrheit der Polen die Formel: Nun erfahren die Deutschen am eigenen Leib, auf welche Weise die Nazis im Krieg die Polen gequält haben. Politiker wie Publizisten rechtfertigten, dass Repressalien kopiert wurden, die Polen selbst unter der deutschen Besatzung während des Krieges erduldet hatten. Damals galten alle Deutschen als „Hitleristen". Der Gebrauch des Deutschen in der Öffentlichkeit war verboten. Entgegen der polnischen Orthographie wurde, auch in offiziellen Dokumenten, in den ersten Nachkriegsjahren das Wort „Deutscher" klein geschrieben, also niemiec statt Niemiec. In vielen Orten mussten sie Armbinden mit einem „N“ für Niemiec tragen. Die Rede war fast ausschließlich vom „bösen Deutschen", dem Erbfeind der Polen. In den ersten Nachkriegsjahren erschienen Hunderte von Artikeln und Dutzende von Büchern über den heldenhaften Kampf der Polen gegen die Besatzer, die Abneigung und Hassgefühle gegen alle Deutschen verstärken sollen.

Die in den Oder-Neiße-Gebieten zurückgebliebenen Deutschen hatten ihre Wohnungen und Häuser zu räumen, ihr Besitz wurde zu polnischem Staatseigentum erklärt. Zehntausende wurden in Lager, die die deutschen Besatzer während des Krieges eingerichtet hatten, interniert und mussten Zwangsarbeit leisten. In einigen Städten mussten die Deutschen, bevor sie zwangsausgesiedelt wurden, in besonders gekennzeichnete Bezirke ziehen, die die lokalen Behörden „Deutschen-Ghettos“ nannten.

Der Kommunist Edward Ochab, der Generalbevollmächtigte der Regierung für den Aufbau einer polnischen Verwaltung, fasste das Ziel der Maßnahmen gegen die Deutschen in dem Satz zusammen: „Wir treiben sie in Haufen hinter Oder und Neiße.“[1] Wladyslaw Gomulka, Generalsekretär der Kommunistischen Partei, der später auch das Ministerium für die Wiedergewonnenen Gebiete übernahm, befand: „Wir müssen sie alle hinauswerfen, denn einen Staat baut man aus einer Nation und nicht aus vielen Volksgruppen.“[2] Der Begriff „wiedergewonnene Gebiete“ bezog sich darauf, dass Schlesien und Pommern im Mittelalter zum Königreich Polen gehört hatten.

Alle maßgeblichen politischen und gesellschaftlichen Kräfte Polens – Kommunisten, Nationalisten, katholische Kirche – waren sich einig darin, dass die Zwangsaussiedlung politisch unausweichlich sei. Mit drei Kernargumenten wurde diese Politik einhellig jenseits aller ideologischen Schranken begründet:

  • Polen wird dadurch sicherer.
  • Polen wird eine ethnisch homogene Nation.
  • Die historische Gerechtigkeit ist wiederhergestellt.

Die in die Großstädte wie Breslau, Danzig, Stettin strömenden Polen begannen unverzüglich, Kirchen, Schulen, Theater instandzusetzen, sofern sie nicht völlig zerstört waren. In Breslau, das nur noch Wroclaw genannt werden durfte, eröffnete die nun polnische Universität im Oktober 1945 pünktlich das Wintersemester; Vorlesungen und Seminare fanden in mehreren halb zerstörten Gebäuden statt.

Gleichzeitig wurden systematisch alle deutschen Spuren entfernt, von Aufdrucken auf Biergläsern und Kaffeetassen über Straßenschilder und Inschriften auf Gebäuden bis hin zu Privatbibliotheken. Zehntausende deutschsprachiger Bücher wurden in den ersten Nachkriegsjahren verbrannt, Denkmäler geschleift und Friedhöfe eingeebnet. Mit den Grabplatten wurden die Seiten des Breslauer Stadtgrabens verstärkt, sie wurden beim Bau der Tribüne des Fußballstadions ebenso verwendet wie für die neuen Freigehege des Zoos.[3]

[1] Zit. nach: Wanja W. Ronge: Und dann mussten wir raus/I wtedy nas wywiezli. Wanderungen durch das Gedächtnis. Von Vertreibungen der Polen und Deutschen 1939-1949, Berlin 2000, S. 40.

[2] Zit. nach: Piotr Madajczyk: Niemcy w Polsce 1944-1989, Warschau 2001, S. 17.

[3] Wlodzimierz Kalicki: Breslau – das Zuhause von Pawel und Malgorzata, in: Transodra. Deutsch-polnisches Informationsbulletin 17 (1997), S. 21.
 

Verfälschung der Geschichte

Die staatliche Propaganda trommelte zunächst, die Enteignung und Zwangsaussiedlung der Deutschen seien Vergeltung für den deutschen Besatzungsterror während des Zweiten Weltkrieges. Bald aber galten andere Vorgaben der Parteiführung. Die Umstände der Zwangsumsiedlung der Deutschen durften nicht mehr als gerechte Strafe beschrieben, sondern überhaupt nicht mehr erwähnt werden. Der Begriff „Vertreibung“ wurde nur in Anführungszeichen geschrieben, er galt als westdeutsche Propagandavokabel.

Offiziell war von „Repatriierung der Deutschen“ die Rede. Die polnische Führung habe mit dem „Transfer“ der Deutschen aus den historisch polnischen Gebieten in ihre „Heimat“ nur die Anordnungen ausgeführt, die die Siegermächte auf der Potsdamer Konferenz im August 1945 beschlossen hätten. Polen sei verpflichtet worden, diese Beschlüsse auszuführen, und habe dies „auf humanitäre Weise“ getan. Sie seien auch als Entschädigung für die Verluste zu sehen, die Polen im Zweiten Weltkrieg durch die deutschen Besatzer erlitten habe. Dass es zwischen 1945 und 1949 zu Verbrechen an Deutschen gekommen sei, wurde grundsätzlich bestritten, die Aussiedlung sei überdies Folge der deutschen Verbrechen im Krieg.

Ebenso war jegliche Andeutung, geschweige denn Erörterung verboten, dass Polen durch die Verschiebung seines Territoriums nach Westen auf Kosten des Deutschen Reichs langfristig vom politischen und militärischen Schutz durch die Sowjetunion abhängig war; die Sowjetarmee habe Polen vor den westdeutschen Revanchisten zu schützen. Dass laut dem Potsdamer Protokoll die deutschen Ostgebiete zunächst nur „unter polnische Verwaltung“ kommen sollten und die neue polnische Westgrenze erst auf einer künftigen Friedenskonferenz festgelegt werden sollte, erfuhr die Bevölkerung nicht. In der gleichgeschalteten Presse war ebenso wie in den Schulbüchern von „urpolnischer Erde“ die Rede.

In der Geschichtsschreibung wurde konsequent die deutsche Vergangenheit der 1945 unter polnische Hoheit gekommenen Gebiete ignoriert oder bagatellisiert. Die Westgebiete seien vor Jahrhunderten gewaltsam vom polnischen Staat abgetrennt worden, der „deutsche Drang nach Osten“ habe auch zur Germanisierung der Bevölkerung geführt. Nach dem Zweiten Weltkrieg seien diese Gebiete „zum Mutterland zurückgekehrt". Es wurde der Bogen geschlagen von den Rittern des Deutschen Ordens über Friedrich den Großen bis zu Bismarck, die alle Vorläufer Hitlers gewesen seien. Alle hätten dasselbe Ziel gehabt: Polen zu unterjochen.

Die Geschichte Schlesiens, Pommerns, West- und Ostpreußens wurde mit großem Aufwand umgeschrieben. Für Schlesien galt beispielsweise, dass bis Anfang des 14. Jahrhunderts das Land polnisch gewesen und anschließend tschechisch geworden sei. Dass der König von Böhmen damals ein Deutscher war, nämlich Johann von Luxemburg, dass es zum Deutschen Reich gehörte, durfte nicht erwähnt werden. Auf der Verbotsliste für die Historiker stand ebenso die Aufbauleistung der deutschen Siedler, die die schlesischen Herrscher aus dem polnischen Geschlecht der Piasten eingeladen hatten. Dass die schlesischen Piasten einen eigenen Weg gegangen waren und sich von der polnischen Krone gelöst hatten, war ebenfalls ein unerwünschtes Thema: Sie betrieben die Aufnahme ihres Herrschaftsgebiets in das Deutsche Reich, der polnische König Kasimir III. musste im 1335 geschlossenen Vertrag von Trentschin den Verlust Schlesiens anerkennen.

Desgleichen wurden in der offiziellen Geschichtsschreibung die österreichische und die preußische Periode Schlesiens als Fremdherrschaft dargestellt. So lernten die Schüler, welche großen Polen in den vergangenen Jahrhunderten Breslau besucht hatten; doch sie erfuhren in der Schule nicht, dass die Stadt in dieser Zeit durch und durch deutsch war.

Die These von den „wiedergewonnenen Gebieten“ vertrat in Polen neben sämtlichen politischen Gruppierungen auch die katholische Kirche. Mit ihr ließ sich begründen, warum mehrere Millionen Deutsche die Oder-Neiße-Gebiete verlassen mussten und polnische Siedler ihr Eigentum übernahmen. Die Kirche beteiligte sich energisch an der Auslöschung aller Spuren der deutschen Vergangenheit. Im traditionell protestantischen Masuren übernahm sie die Kirchen, die katholischen Bischöfe rühmten sich, dort die Reformation rückgängig gemacht zu haben.

Die kommunistische Führung warnte unablässig vor dem „deutschen Revanchismus“. Die der Zensur unterliegende Presse druckte in großer Aufmachung Erklärungen der Führer des Bundes der Vertriebenen nach, die in der Tat eine Revision der faktisch bestehenden Grenzen anstrebten. Sie konnten sich dabei auch auf die Bundesregierung in Bonn stützen. Die polnische Presse publizierte Karikaturen, die Bundeskanzler Konrad Adenauer als Ordensritter zeigten. Im Mittelalter führten der Deutsche Orden und die polnischen Könige mehrere Kriege gegeneinander.

Unter den polnischen Neusiedlern herrschte große Unsicherheit, da die Bundesregierung nach wie vor Ansprüche auf die Oder-Neiße-Gebiete erhob. Wiederholt verbreiteten sich Gerüchte, dass die Polen die „wiedergewonnenen Gebiete“ wieder räumen müssten. So wurde die Aufnahme der Bundesrepublik in die Nato 1955 als erster Schritt zu einem militärischen Angriff des Westens angesehen. Nach den Unruhen in der Provinzstadt Posen im folgenden Jahr, als die Armee einen Streik blutig niederschlug, kursierte das Gerücht, der Kreml habe Gomulka angedroht, Schlesien an die DDR anzugliedern, falls dieser nicht für Ordnung im Land sorgen werde. Auch die Berlin-Krise von 1961 wurde als Auftakt zu einem internationalen Konflikt um die DDR und die deutschen Ostgebiete interpretiert.[1]

Der rechtlich ungeklärte Status der ehemaligen deutschen Ostgebiete, die zu den polnischen Westgebieten geworden waren, hatte weitreichende Folgen vor allem für einige Großstädte: Die Volksrepublik Polen hielt sich mit Investitionen zurück. So gab es in der Breslauer Innenstadt keine großen Bauvorhaben, das Stadtbild prägten stattdessen immer noch viele Ruinen. In anderen Städten sah es ähnlich aus. Doch bedeutete diese Zurückhaltung von Investitionen auch, dass diesen Städten die Verschandelung durch modernistische Bausünden in Glas und Beton erspart blieb, wie sie nicht nur in Westeuropa, sondern auch in Osteuropa Baulücken füllten.

Der psychische Druck auf die Bewohner der Westgebiete verringerte sich erst mit der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages, den Gomulka und Bundeskanzler Willy Brandt ausgehandelt hatten, im Dezember 1970 spürbar. In dem Vertrag sicherte die Bundesregierung die Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen zu. Von polnischer Seite wurde der Vertrag auch als völkerrechtliche Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze interpretiert. Nun stellte die polnische Regierung auch Mittel zum Wiederaufbau vieler im Krieg zerstörter Gebäude zur Verfügung. Dass es sich dabei meist um Baudenkmäler aus dem deutschen Kulturerbe handelte, wurde dabei durchweg verschwiegen, so wie die Vertreibung der Deutschen nach dem Krieg Tabuthema blieb.

Doch konnten die Parteiführung, die Schulbehörden und die Zensur nicht verhindern, dass eine Generation nach dem Krieg immer mehr Menschen begannen, nach den deutschen Wurzeln der nun völlig polonisierten Städte zu suchen. Man traf sich zu privaten Exkursionen, es entstand ein illegaler Sammlermarkt für deutsche Bücher, alte Ansichtskarten, sogar Uniformen, Orden und Waffen der Wehrmacht, die die Finder entgegen den behördlichen Anordnungen nicht vernichtet hatten. Als mit dem Zusammenbruch des Parteiregimes im Wendejahr 1989/90 auch die politische Zensur verschwand, zeigte sich, dass in jeder Stadt Dutzende von Hobbyhistorikern Zeugnisse vom deutschen Kulturerbe gesammelt hatten.

[1] Norman Davies/Roger Moorhouse: Die Blume Europas. Breslau – Wroclaw – Vratislavia. Die Geschichte einer mitteleuropäischen Stadt, München 2002, S. 571.

Entdeckung der deutschen Vergangenheit

Die nun keiner Zensur mehr unterliegende Presse berichtete ausführlich, beginnend mit den Regionalzeitungen in den „wiedergewonnenen Gebieten“. Auch erschienen die ersten objektiven Berichte über das Los der Vertriebenen, darunter auch Interviews mit Deutschen, die 1945 ihre polnisch gewordene Heimat verlassen mussten – und sorgten längst nicht mehr für Emotionen. Bald brachten polnische Verlage auch Bildbände über das alte Breslau, Danzig, Stettin und viele andere Städte heraus, die bis zum Zweiten Weltkrieg Jahrhunderte lang deutsch gewesen waren.

Überdies erschienen die ersten wissenschaftlichen Arbeiten über die Vertreibung, sie wurde geradezu ein Modethema junger Historiker. Die polnische Öffentlichkeit bekam nun bislang unbekannte Informationen über die Vertriebenen: Fast ein Drittel waren Kinder unter 14 Jahren. Unter den Erwachsenen waren nahezu 90 Prozent Frauen. Maßstäbe setzte die Publikation von vier Bänden amtlicher polnischer Dokumente zur Enteignung, Vertreibung und Zwangsaussiedlung der Deutschen aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße, darunter auch Untersuchungen zu den Lagern, in denen Deutsche Zwangsarbeit leisten mussten und Tausende umkamen.[1]

Die Publikationen all dieser Zeitungsartikel, Aufsätze und Bücher führten zu einer Debatte, die geprägt war von Mitgefühl für das Schicksal der Vertriebenen und Verständnis für ihre Verbitterung. Ein Sammelband, der die wichtigsten Beiträge dazu zusammenfasste, erschien in Polen unter dem Titel „Müssen wir die Deutschen um Vergebung für die Vertreibung bitten?“[2]

Ebenso nahm sich die Belletristik des Themas an. Der bekannte Danziger Schriftsteller Stefan Chwin stellte in den Mittelpunkt seines Romans „Hanemann“ das Schicksal eines Danziger Arztes und einer dorthin zwangsumgesiedelten Ukrainerin im Jahr 1945. Dem Roman „Deutscher Tanz“ von Maria Nurowska, einer der populärsten polnischen Autorinnen, liegt eine wahre Begebenheit zugrunde: Eine junge Deutsche wird im Sommer 1945 von Polen nackt an den Brunnen auf dem Marktplatz eines Städtchens in Pommern angekettet, um den Hals trägt sie ein Schild mit der Aufschrift "Heil Hitler!" Die Literaten interessierten sich zunehmend auch für die deutsche Vergangenheit der „wiedergewonnenen Gebiete“. So spielen die Kriminalromane des polnischen Bestsellerautors Marek Krajewski im Breslau der Zwischenkriegszeit; einige seiner Romane wurden auch verfilmt. Olga Tokarczuk, 2019 ausgezeichnet mit dem Nobelpreis für Literatur, hatte für ihren frühen Roman, „E. E.“ (1995) um eine junge Frau mit parapsychischen Fähigkeiten denselben Ort und dieselbe Zeit gewählt.   

Auch die junge Politikergeneration, die nach den ersten freien Kommunalwahlen 1991 in den westlichen und nördlichen Woiwodschaften in die Rathäuser einzog, kannte keine Scheu vor dem Thema. Die meisten von ihnen gehörten der Demokratiebewegung um die Gewerkschaft Solidarnosc an; deren Führung hatte noch zur Zeit des Parteiregimes die „Entlügung der Geschichte“ gefordert. Dazu gehörte auch, dass die deutsche Vergangenheit der „wiedererlangten Gebiete“ nicht länger verschwiegen oder bagatellisiert werden sollte. In vielen Städten wurden Kontakte zu den Organisationen der Vertriebenen geknüpft.

Die drei masurischen Gemeinden Goldap, Lötzen (Gizycko) und Sorquitten (Sorkwity) machten im Frühjahr 1992 den Anfang: Sie luden die von dort stammenden Deutschen ein, ihre alte Heimat zu besuchen. Es waren die ersten Vertriebenentreffen auf polnischem Boden. Für die neue Politikergeneration hatten gute Beziehungen zum gerade erst wiedervereinigten Deutschland Priorität. Man sah es als selbstverständlich an, die gemeinsame Geschichte auch gemeinsam aufzuarbeiten – mit all ihren Schattenseiten. Noch im selben Jahr zogen die ersten schlesischen Gemeinden mit der Organisation von Treffen der ehemaligen mit den derzeitigen Einwohnern nach: mehrere Orte im ehemaligen Landkreis Neustadt/Oberschlesien (Prudnik) sowie die Gemeinden Himmelwitz (Jemielnica) bei Oppeln und Reinswalde (Zlotnik) bei Grünberg (Zielona Góra). Aus diesen Kontakten entstanden Hunderte von Freundschaften zwischen den ehemaligen und den jetzigen Bewohnern der einst umstrittenen Gebiete.

Ortsvereine der Landsmannschaften sammelten Geld für die Renovierung von Baudenkmälern in ihren heute zu Polen gehörenden Heimatorten. Nicht unerhebliche Mittel stellte dafür auch die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit zur Verfügung. Die 1991 gegründete Stiftung verteilt Gelder aus dem sogenannten Jumbokredit, es handelte sich um genau eine Milliarde Mark, die die Bundesregierung 1975 der Volksrepublik Polen als Darlehen gewährt hatte. Da die neue demokratisch legitimierte Führung in Warschau Anfang der neunziger Jahre nicht in der Lage war, die Schulden des kommunistischen Regimes zu begleichen, verzichtete Bonn auf diese Milliarde. Sie wurde der Grundstock der neuen Stiftung, die nicht nur der deutsch-polnischen Verständigung dienen, sondern auch den Aufbau demokratischer Strukturen in Polen fördern soll.

Mit dem Ende der Zensur gehörte auch ein Verbot der Vergangenheit an: Tabu waren für polnische Historiker die von den Landsmannschaften finanzierten Jahrbücher, die sich auf akademischem Niveau der Geschichte Schlesiens, Pommerns oder Ostpreußens widmen. Seit der politischen Wende ist es eine Selbstverständlichkeit für polnische Regionalhistoriker, dort zu publizieren und auch an wissenschaftlichen Tagungen teilzunehmen.

Diese freundschaftlichen Kontakte führten dazu, dass die Heimatmuseen vieler der polnisch gewordenen Städte umgestaltet wurden; sie stellen nun objektiv die deutsche Vergangenheit mit ihren Licht- und Schattenseiten dar. So war es für den Stadtrat von Breslau eine Selbstverständlichkeit, 1997 Mittel für eine „Galerie der großen Breslauer“ zu genehmigen, in der zunächst sieben Persönlichkeiten mit Büsten gewürdigt wurden -  sechs von ihnen waren Deutsche: Max Born, Träger des Nobelpreises für Physik, Literaturnobelpreisträger Gerhart Hauptmann, der Dramatiker Karl von Holtei, Ferdinand Lassalle, einer der Gründerväter der SPD, der Maler Adolph von Menzel, die in Auschwitz ermordete Philosophin und Nonne Edith Stein, schließlich der aus einer deutsch-polnischen Familie stammende Chirurg Johann von Mikulicz.

Die Galerie wurde mittlerweile um 25 Büsten erweitert, 14 davon sind deutschen Breslauern gewidmet. Die Andenkenläden auf dem prachtvoll renovierten Breslauer Ring, wie der weit ausholende Rathausplatz mit seinen vom einstigen Reichtum der Stadt zeugenden Bürgerhäusern heißt, bieten historische Ansichtskarten mit deutschen Aufschriften an. Der Begriff „Ring“ für einen rechteckigen Platz ist kein Irrtum, es handelt sich nicht um das deutsche Wort, sondern um einen Anklang an die Zugehörigkeit der Stadt zum Piastenreich im Mittelalter: „Ring“ geht hier auf das polnische Wort rynek (Markt) zurück.

Am Beispiel des Breslauer Rathauses lässt sich aufzeigen, warum das Deutschland-Bild der Polen im Westen des Landes so anders ist als im Osten: Traditionell führt ein Schulausflug von Oberstufenschülern aus den westlichen Woiwodschaften nach Breslau; dort besuchen sie das Rathaus mit der Galerie der „großen Breslauer“, unter denen die Deutschen die Mehrheit stellen. Die Schüler in Ostpolen aber besuchen das Museum des Warschauer Aufstandes von 1944, wo Filmsequenzen und Fotos in drastischer Weise die Verbrechen der deutschen Besatzer zeigen.

[1] Wlodzimierz Borodziej/Hans Lemberg (Hg.): „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden …“. Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945–1950. Dokumente aus polnischen Archiven. Bd. I – IV, Marburg 2000–2004.

[2] Deutsche Ausgabe: Klaus Bachmann/Jerzy Kranz: Verlorene Heimat. Die Vertreibungsdebatte in Polen, Bonn 1998.

Streit um das Zentrum gegen Vertreibungen

Die erste von Neugierde und Mitgefühl geprägte polnische Debatte über die Vertreibung der Deutschen und den Umgang mit ihrem Kulturerbe endete mit der Jahrtausendwende. Ihr Ende ging einher mit einem innenpolitischen Rechtsschwenk in Polen. Es wurde offenbar, dass all die Publikationen über die deutsche Vergangenheit der polnischen Westgebiete an konservativen und nationalistischen Gruppierungen weitgehend vorbeigegangen waren. In diesen Kreisen gab und gibt es überhaupt kein Verständnis für die engen Kontakte zwischen den Organisationen der Heimatvertriebenen und polnischen Kommunalpolitikern.

Für heftige Emotionen sorgte in Polen das vom Bund der Vertriebenen unterstützte Projekt einer Dokumentationsstätte, in der Vertreibungen im 20. Jahrhundert wissenschaftlich erforscht und in einer Dauerausstellung einem größeren Publikum nähergebracht werden sollten. Das Zentrum gegen Vertreibungen, wie die hinter dem Projekt stehende Stiftung heißt, wurde an der Weichsel nicht nur als Versuch angesehen, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs zu Lasten der Polen umzuschreiben, sondern auch als psychologischer Flankenschutz für Eigentumsforderungen. In der Tat hatte eine Gruppe von Vertriebenen eine Gesellschaft mit dem Namen Preußische Treuhand gegründet, die deren Eigentumsansprüche auf verlorene Immobilien juristisch durchsetzen sollte. Zwar distanzierten sich die Initiatoren des Zentrums gegen Vertreibungen von der Preußischen Treuhand, doch konnten sie damit nicht zur Beruhigung der Lage beitragen. Vielmehr löste das Zentrumsprojekt in Polen einen wahren Sturm der Entrüstung aus. Es wurde argumentiert, die Deutschen seien selbst an der Vertreibung schuld, denn sie hätten schwerste Verbrechen als Besatzer in Polen begangen.

Die zweite polnische Vertreibungsdebatte, die von Historikern und Publizisten aus dem nationalpatriotischen Lager dominiert wurde, setzte somit gänzlich andere Akzente als die erste: Sie behaupteten, in der Bundesrepublik würden die Verbrechen des NS-Regimes zunehmend marginalisiert, stattdessen stellten die Deutschen sich selbst als Opfer des Krieges dar – eine These, die indes nicht durch Fakten gedeckt war. Das Thema Vertreibung verschwand aus den Schul-, Verlags- und Fernsehprogrammen, an den Universitäten wurde es von den Themenlisten für Forschungsvorhaben und Examensarbeiten gestrichen. Auch brachte die hitzige Debatte die Befürworter eines Dialogs mit den Vertriebenen sowie der Pflege des deutschen Kulturerbes in die Defensive.

Die Lage entspannte sich zumindest für die betroffenen Regionen, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2008 eine Musterklage der Preußischen Treuhand mit dem Ziel  der Rückgabe von Immobilien an die früheren Eigentümer zurückgewiesen hatte. Die Begründung war formal: Die Europäische Menschenrechtskonvention von 1953 könne nicht rückwirkend auf die Enteignungen von 1945 angewendet werden. Da nun weder Kommunen noch Privatleute die Rückkehr der früheren deutschen Besitzer fürchten mussten, konnten sie sich wieder unbeschwert der Pflege des deutschen Kulturerbes widmen, so wie dies nach der politischen Wende Anfang der neunziger Jahre begonnen hatte. Doch in Zentralpolen sowie im Osten und Süden des Landes, wo fast überall nationalkonservative Kandidaten seit zwei Jahrzehnten alle Wahlen gewonnen haben, betrachtet man diese Annäherung nach wie vor mit großem Misstrauen.

Autor

Thomas Urban war Osteuropa-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung und ist Autor von Büchern zur Geschichte Polens sowie Russlands.
 

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