Themenforum Oberwiesenfeld

Dr. Ludwig Spaenle, MdL

Ein Gespräch mit dem Beauftragten der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe Ludwig Spaenle, MdL

Bild: Dr. Ludwig Spaenle, MdL

Foto: Studio Liebhart

„Die Erinnerung an die Opfer des Olympia-Attentats darf nie aufhören“
 
Ludwig Spaenle, geboren 1961, wuchs im Münchner Stadtteil Schwabing auf. Nach dem Abitur im Jahr 1980 studierte er Theologie und Geschichte und wurde 1989 mit einer Arbeit über den Philhellenismus in Bayern zwischen 1821 und 1832 an der LMU München promoviert. Von 1994 bis 2018 war Ludwig Spaenle Abgeordneter des Bayerischen Landtags, seit Mai 2020 hat er wieder einen Sitz im Parlament. Er war von 2008 bis 2013 Staatsminister für Unterricht und Kultus, ab 2013 Staatsminister für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst. 2010 hatte er das Amt des Präsidenten der Kultusministerkonferenz inne. Als Kultusminister setzte sich Spaenle für den Bau des Erinnerungsortes im Olympiapark ein und entwickelte im Ministerium die Pläne dazu. Seit 2018 bekleidet er das Amt des Beauftragten der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe. Ludwig Spaenle ist Träger der Bayerischen Verfassungsmedaille in Silber und des Bayerischen Verdienstordens.       
 
 
E+P: Sie haben als Münchner eine lange „Beziehung“ zum Oberwiesenfeld – wenn man heute neu nach München kommt, nimmt man eher ein stark bebautes Areal wahr, nur der Name der U-Bahn-Station erinnert daran, dass es ein zusammenhängendes Areal mit einer eigenen Geschichte ist. Als in der Nähe lebender Münchner haben Sie die Umgestaltung im Vorfeld der Olympischen Spiele von 1972 ja sehr intensiv mitbekommen, oder?
 
Ludwig Spaenle: Ja, vieles habe ich als Bub bewusst erlebt – ich war 1972 elf Jahre alt. Das Oberwiesenfeld war eine Art Lebensort für uns.
Meine erste Erinnerung an die großen Veränderungen am Oberwiesenfeld, die im Umfeld der Olympischen Spiele 1972 vorgenommen wurden, ist die an ein Modell des damaligen Fernsehturms. Das wurde mir als Kind 1968 geschenkt. Es war – so deute ich es heute – ein Symbol für ein München, das im Umbruch war. Da geschieht etwas.
 
 
E+P: Welche Erinnerungen und Orte sind für Sie dabei besonders wichtig?
 
Ludwig Spaenle: Aus dem Schuttberg im Münchner Norden wurde Olympia 1972 – auf den Trümmern des Zweiten Weltkrieges entstand die Olympische Welt 1972. Und die damalige Bebauung, vor allem die Militäranlagen und das Flugfeld auf dem Oberwiesenfeld, wich den Spielstätten und dem Olympiadorf. Wir haben damals in der Nähe des Nordbads gewohnt. Ich habe noch Bilder von dem Flughafen im Kopf: Dort hörten Straßen unvermittelt auf. Ich kann mich wie fotografisch an das Bild erinnern, das man vom Gipfel des Bergs auf das Feld hatte: nierenartig, Rasen mit Randbebauung. Bei den Baumaßnahmen für das Olympiagelände wurde dann der Schuttberg einmodelliert. Für mich war das ein Riesenereignis: Baumaschinen, Kräne und der Weg zu Olympia. Und wir waren als Kinder – neugierig und unbedarft – oft vor Ort.
Ich empfand das so: Aus dem Schuttberg wurde der Olympiaberg mit einer großen Rodelbahn.
 
 
E+P: Manche Nicht-Münchnerinnen und Nicht-Münchner sind ganz schockiert, wenn sie erfahren, dass die bergige Olympialandschaft auf Schuttbergen aus Weltkriegstrümmern begründet ist. Wann wurde Ihnen das klar?
 
Ludwig Spaenle: Das war damals Allgemeingut. Der Begriff für den heutigen Olympiaberg lautete „Schuttberg“. Es gab noch einen zweiten kleineren in Schwabing. Die Entstehung dieses schon in den 60er Jahren begrünten und begehbaren Hügelgeländes aus den Trümmern des zerbombten München war stadtbekannt. Ich erlebte zudem eine familiäre Situation, in der über die NS-Zeit mit all ihren Gräueln und Abgründen immer und völlig offen gesprochen wurde. So besuchte ich als wohl Fünf- oder Sechsjähriger mit meiner Großmutter zum ersten Mal auch die KZ-Gedenkstätte in Dachau.
 
E+P: Die ursprünglichen Planungen des Olympiageländes ließen sich ja nicht realisieren, ein Grund war eine Kapelle des russischen Eremiten Timofej?
 
Ludwig Spaenle: Ich erinnere mich an Väterchen Timofej, der am Rande des Flugfeldes ein Haus und eine kleine Kapelle gebaut hatte – später wurde sie Ost-West-Friedenskirche genannt. Ich war oft dort. Einmal haben wir den russischen Eremiten mit einem Nennonkel, einem Arzt, der in russischer Gefangenschaft gewesen war, besucht. Er sprach fließend Russisch und redete Timofej auf Russisch an. Dieser tat so, als ob er dies nicht verstünde. Ein eigenartiges Erlebnis.
Timofej strahlte eine besondere Atmosphäre aus. Dass er der Grund war, warum das Olympiagelände räumlich verändert geplant wurde, habe ich nicht bewusst miterlebt.
 
E+P: Wie haben Sie das Jahr der Olympischen Spiele 1972 erlebt? Haben Sie selbst als Zuschauer Wettkämpfen beigewohnt? Wenn ja, welchen?
 
Ludwig Spaenle: Die Schulferien wurden verlängert, daran kann ich mich erinnern. Und wir Kinder aus Schwabing freuten uns auf die heiteren Spiele – der bunte Waldi, ein Dackel, war das Maskottchen und zugleich Ausdruck für ein neues Lebensgefühl. Es war eine euphorisierte Stimmung damals, in der Familie und in der ganzen Stadt. Viele von uns Kindern aus Schwabing durften an der Eröffnung der Spiele am 26. August 1972 teilnehmen. Ich selbst gehörte leider nur zur „dritten Ersatzreihe“ für Mädchen und Buben bei dieser Eröffnung. Also blieb mir nur der Platz vor dem Farbfernseher bei Nachbarn – es war der erste in der ganzen Umgebung. Die Eltern verboten mir aus Sorge, dass mir etwas zustoßen könne, allein zu den Spielen rüberzugehen. Dabei war alles dort so neu: Varieté, tausende junger Sportlerinnen und Sportler und unheimlich viele Menschen, die zusahen.
Immerhin an der Regattastrecke konnten wir dabei sein, da hatte das IOC ­– so hatte ich das später gelesen – eigens Publikum für die lange Distanz gesucht. Zehntausende Menschen säumten die Spielstätten und warteten, wer die Medaillen errang. Auch bei Ballspielen und Leichtathletik-Entscheiden konnten wir Kinder mit unseren Eltern zuschauen. Ich habe 1972 das erste Mal in meinem Leben ein Volleyballspiel gesehen. Viele große Namen wie Klaus Wolfermann und Heide Rosendahl waren mir bekannt, aber ihre Wettkämpfe habe ich nicht live erlebt.
 
E+P: Wie stand es um Sicherheitskräfte, Polizei und Absperrungen?
 
Ludwig Spaenle: Sicherheitsdienste gab es, sowohl am U-Bahnhof wie auch am olympischen Dorf. Ich erinnere mich an ihre Plastikhosen. Aber als Kinder sind wir ohne große Hürden ins olympische Dorf gelangt, als Steppke standen wir im olympischen Dorf. Dort traf sich auch die Jugend der Welt. Irgendwann sind wir dann auch wieder heimgeschickt worden. Ich habe die Spiele als riesige Feier erlebt, mit bunten Farben – bis zum Tag des Attentats.
 
E+P: Haben Sie das Attentat damals bewusst wahrgenommen? Und wenn ja, wo haben Sie die dramatischen Stunden verfolgt?
 
Ludwig Spaenle: Das Attentat habe ich wie einen Einschnitt erlebt. Der Vorfall, den wir gespannt vor dem Fernseher verfolgt haben, lähmte die Familie und die Gesellschaft wie ein Bombeneinschlag. Aber natürlich wusste ich zunächst nicht, was geschehen war. Am Abend des Attentats hörte unsere Familie das Aufsteigen der Hubschrauber – mit den Hubschraubern, das wurde dann bekannt, wurden die Terroristen und ihre Geiseln nach Fürstenfeldbruck gebracht. Die Eltern sprachen über das Unmögliche, was dort geschehen war, als die Nachrichtenlage klar wurde. Fernsehen spielte bei dem palästinensischen Anschlag auf die israelische Nationalmannschaft eine ebenso große Rolle wie bei der Übertragung der friedlichen Spiele überhaupt.
 
E+P: Können Sie sich an die Reaktion des IOC-Präsidenten erinnern?
 
Ludwig Spaenle: Die Ankündigung des IOC-Präsidenten Avery Brundage „The Games must go on“ – „Die Spiele müssen weitergehen“ haben wir zunächst im Fernsehen verfolgt. Meine Mutter und ich sind dann aber rübergerannt. Das Stadion war rappelvoll. Ich stand als Kind im Olympiastadion unter einer der großen Anzeigentafeln und hörte die Botschaft des IOC-Präsidenten Avery Brundage. Die Spiele sollten weitergehen und sie gingen weiter – unbeeindruckt vom Terroranschlag, der Geiselnahme und der Ermordung von elf israelischen Sportlern und einem Polizisten. Ich habe das als dramatisch wahrgenommen.
 
E+P: Gibt es weitere Situationen, die Sie noch rekapitulieren können?
 
Ludwig Spaenle: Wir hatten in unserer Wohnung ein Erlebnis eigener Art. Eine Freundin meiner Mutter, die aus der Ukraine – damals in der UdSSR – stammte und seit Jahren in den Vereinigten Staaten lebte, besuchte uns in regelmäßigen Abständen. Und dieses Mal zu den Olympischen Spielen. Sie traf sich an einem Tag während der Spiele bei uns zu Hause mit ihrer Schwester, die selbst noch in der Sowjetunion lebte. Diese wurde von zwei Sicherheitsleuten begleitet. Im Nachhinein erscheint mir das als ein Stück Weltgeschichte im Kleinen.
 
E+P: Wie gingen Deutschland und Bayern mit der Erinnerung an 1972 um? Wie empfinden Sie das in der Rückschau?
 
Ludwig Spaenle: Es war beschämend, wie man in München, Bayern und Deutschland mit diesem terroristischen Anschlag umgegangen ist. Man wollte die Erinnerung an die heiteren Spiele und nicht die an das Totalversagen der deutschen Sicherheitskräfte beim Attentat wachhalten. So wurde die Erinnerungsarbeit ebenso zum Totalversagen. Sie fand im Grunde nicht statt. Mit kleinen Ausnahmen. Es wurde eine Tafel am Ort der Geiselnahme in der Connollystraße 31 im olympischen Dorf angebracht. Und es gab eine Stele von Fritz König.
Der Landkreis Fürstenfeldbruck dagegen, auf dessen Luftwaffenstützpunkt das Geiseldrama sein blutiges Ende genommen hat, hat tatsächlich Verantwortung für die Aufarbeitung übernommen und hier regelmäßig zum Jahrestag der missglückten Befreiung der Geiseln auf dem Luftwaffenstützpunkt in Fürstenfeldbruck gedacht. In der Folge empfand ich immer mehr, dass hier vieles schief oder eben gar nicht gelaufen war. Als Ankie Spitzer für die Angehörigen der Opfer 2012 das Problem in einer Art Brandrede in Fürstenfeldbruck formuliert hat, wurde den politisch Verantwortlichen klar, dass hier ein anderer Weg eingeschlagen werden musste. Der damalige Ministerpräsident Horst Seehofer gab hier wichtige Anstöße, etwa zur Öffnung der Archive. Als damaliger Kultusminister, in dessen Verantwortung auch die Erinnerungsarbeit lag, versuchte ich dazu einen Beitrag zu leisten. Die Erinnerungsarbeit in Stadt und Freistaat nahm hier eine entscheidende Wendung. Es konnte nicht angehen, dass man Angehörige von Opfern bei den Behörden von Pontius zu Pilatus schickte – ohne Ergebnis. Manchen scheint diese Erkenntnis offensichtlich bis heute fremd.
 
E+P: Welche Schlussfolgerungen haben Sie dazu gezogen? Und welche Schwerpunkte haben Sie dabei gesetzt?
 
Ludwig Spaenle: Gemeinsam mit Menschen, die sich ebenfalls die Aufarbeitung und Erinnerung zur Aufgabe gemacht haben, habe ich die Überlegung zu einem Memorial in einer neuen Form entwickelt. Uns ging es darum, die einzelnen Opfer, jeden der elf ermordeten israelischen Sportler und den bayerischen Polizisten, wieder ins Bewusstsein zu bringen, als Person und Persönlichkeit mit einem jeweils eigenen Schicksal. Zentral ist der Ort – zunächst der Hügel, von wo aus die Kameras den Terrorakt gefilmt haben, und dann schließlich der Hügel, auf dem wir den Erinnerungsort verwirklichen konnten. Von hier aus hat man den Blick auf den Tatort, auch auf das Olympiagelände und die Sichtachse nach Fürstenfeldbruck. Wichtig war mir auch, das Attentat in den weltgeschichtlichen Kontext einzubetten, also auch den israelisch-palästinensischen Konflikt darzustellen. Schließlich war zentral, dass das im Architektenwettbewerb siegreiche Architekturbüro das Gefühl als Idee zur Planung aufgriff, das viele Menschen 1972 hatten: Es war ein „Einschnitt“. Das ist der Titel des Gedenkortes. Durch diesen Einschnitt wurden die Menschen 1972 aus ihrem Leben gerissen und ihre Familien haben diesen Einschnitt existenziell erlebt.
 
E+P: Und Sie haben Ihr Anliegen dann rasch umgesetzt.
 
Ludwig Spaenle: Ja, es gelang, in recht kurzer Zeit, in gut zwei Jahren, den Erinnerungsort zu planen und zu errichten. Im Beisein der Angehörigen der Opfer sowie unter nationaler und internationaler Beteiligung, zum Beispiel mit Bundespräsident Steinmeier, Israels Staatspräsident Rivlin und Bayerns Ministerpräsident Seehofer, konnten wir ihn Anfang September 2017, 45 Jahre nach dem Terrorakt, eröffnen.
 
E+P: Anlässlich des Jubiläums der Spiele finden zahlreiche verschiedenartige Veranstaltungen statt. Nimmt Ihrer Meinung nach das Gedenken an die Opfer des Olympia-Attentats den Raum ein, der ihm zusteht?
 
Ludwig Spaenle: Das Erstaunen über die enorme Entwicklungsschubkraft der Spiele von München – zum Beispiel hinsichtlich eines nachhaltigen Landschaftsbaus – erreicht soeben erst das kollektive Bewusstsein. Man darf und muss an diese positive Seite erinnern. Das geschieht meines Erachtens in besonnener Form. Gleichzeitig wird in München und Fürstenfeldbruck unter Einbezug der Hinterbliebenen im Rahmen einer Erinnerungsstunde der Opfer gedacht. Ob die Waagschalen allerdings auf gleicher Höhe sind, wage ich zu bezweifeln.
Ich bin dankbar, dass ich selbst, zum Beispiel im Rahmen einer Veranstaltung mit Landeshistoriker Prof. Kramer, an das Unfassbare von 1972 erinnern darf. Die Erinnerung an die Opfer des Olympia-Attentat darf nie aufhören.
 
E+P: Sie haben eine neue Initiative angestoßen, dass die Bundesregierung die Angehörigen der Opfer endlich wirklich entschädigen soll. Wie steht es mit Ihrem Anliegen?
 
Ludwig Spaenle: Man kann nicht in Ruhe gedenken, wenn man erlebt, dass bis heute den Angehörigen der Ermordeten die mehr als gerechte Entschädigung vorenthalten wird. Die Bundesrepublik Deutschland steht hier in der Pflicht. Deshalb habe ich mich in einem Schreiben an Bundeskanzler Scholz gewandt. Die Bundesrepublik muss hier ihrer Verantwortung gerecht werden. In dieser Frage gibt es mittlerweile etwas Bewegung.
Erlauben Sie mir noch einen letzten Satz. Die Erinnerung war schwierig und beschämend von Seiten der Landeshauptstadt, des Freistaats und des Bundes. Neben dem Engagement des Landkreises Fürstenfeldbruck will ich aber auch eines nicht unerwähnt lassen. Es gibt eine Jugendherberge in Tel Aviv, vor der ein Mahnmal an den Terroranschlag von 1972 und die Opfer erinnert. Dieser Gedenkort, den ich selbst schon zwei Mal besucht habe, wurde von der LH München in der Amtszeit von Oberbürgermeister Erich Kiesl errichtet.
 
 
Interview: Monika Franz und Dr. Ludwig Unger

 
 

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