Themenforum Flucht und Vertreibung

Flucht und Vertreibung im gesellschaftlichen und politischen Diskurs Deutschlands

Flucht und Vertreibung im gesellschaftlichen und politischen Diskurs Deutschlands

von Matthias Weber

Bild:
49. Heimattag des Bundes der Vertriebenen in Berlin, 1995 Foto: snapshot-photography/Süddeutsche Zeitung Photo
Eine persönliche Erinnerung:
Die in meinem Geburtsjahr 1961 in Baden-Württemberg durchgeführte „Volkszählung“ ergab einen landesweiten Anteil der Vertriebenen und Flüchtlinge von knapp einem Fünftel. In dem Dorf bei Stuttgart, in dem ich aufwuchs, waren sie aber kaum sichtbar, wie mir rückblickend auffällt. Erst viel später realisierte ich, dass viele Vertriebene in meinem Umfeld gelebt hatten, und dass mehrere meiner Jugendfreunde Eltern aus Schlesien oder dem Sudetenland hatten. Gesprochen haben wir darüber nicht. Warum? Offenbar war die Eigenschaft, „Vertriebener“ oder „Flüchtling“ zu sein, in meiner schwäbischen Heimat nicht prestigefördernd gewesen.

Nach 1945:

Die junge Bundesrepublik stand in den ersten Nachkriegsjahren zunächst vor der Herausforderung, Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aufzunehmen. Die damit verbundenen Probleme waren zugleich Hauptthemen des gesellschaftlichen und politischen Diskurses der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte.[1]

Die Lebenswirklichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg unterschied sich in kaum vorstellbarer Weise von unserer heutigen Zeit, wo Deutschland nach einem Dreivierteljahrhundert Friedenszeit auf einem Spitzenplatz im „Human Development Index“ der Vereinten Nationen steht: Damals trauerten Viele um Angehörige oder konnten nicht sicher sein, dass sie überhaupt noch am Leben waren. Viele hausten in zerstörten Städten, litten wirtschaftliche Not, hatten Existenzangst. Dies war nicht die Atmosphäre, in der sich die meisten Menschen selbstkritisch daran erinnerten, dass Deutschland den Krieg begonnen und die Verantwortung für den Holocaust und für den Vernichtungskrieg im Osten trug. Im Gegenteil: Ein Großteil der Deutschen sah sich damals selbst als Opfer.

Für die Einheimischen waren die Vertriebenen und Flüchtlinge zusätzliche Konkurrenten in einem schon bestehenden Wettbewerb um Nahrung, Arbeit, Alltagsgüter und Wohnung: Vielerorts mussten die Behörden sogar Zwangseinquartierungen in Privathäuser vornehmen, um die Ankommenden unterzubringen. Kein Wunder, dass die fremden „Habenichtse“ nicht willkommen waren. Sie wurde oft geringschätzig als „Polacken“ oder „Heuschrecken“ abqualifiziert. „Die Flüchtlinge müssen hinausgeworfen werden“,[2] hieß es im bayerischen Traunstein 1947, und im badischen Lahr stand 1951 auf einem Fastnachtsbanner: „Badens schrecklichster Schreck, der neue  Flüchtlingstreck“.[3]

Dies erinnert heute stark an die Pegida-Parolen gegen die Einwanderungspolitik Deutschlands – allerdings hatte die Bundesrepublik mit West-Berlin 1950 lediglich etwas über 50 Millionen Einwohner und musste fast auf einen Schlag knapp acht Millionen Menschen aufnehmen. 2020 hatte Deutschland 83 Millionen Einwohner – die Zahl der Asylanträge, verteilt über das ganze letzte Jahrzehnt, beträgt gerade einmal 2,5 Millionen.

Für Viele wurde die Ankunft nach dem Heimatverlust zur zweiten traumatischen Erfahrung; es war vielfach eine „Kalte Heimat“,[4] die sie empfing, in der sie mehr noch als die Einheimischen in eine ungewisse Zukunft blickten. Umso stärker war der Wunsch nach baldiger Rückkehr.

II. Ein diskursprägendes Dokument – die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ (1950)

Die Bildung politischer Vertretungen, auch nur die Artikulation gemeinsamer Interessen erwies sich infolge des fortdauernden Koalitionsverbots zunächst als schwierig. Die seit 1949 bestehenden beiden Dachvereinigungen („Zentralverband vertriebener Deutscher“, ZvD, und „Vereinigte Ostdeutsche Landsmannschaften“, VOL) begannen gleich nach ihrer Gründung mit der Erarbeitung eines Grundlagendokuments, der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“, die 1950 in Stuttgart beschlossen und auf einer Großkundgebung vor rund 100.000 Menschen verkündet wurde. Sie sollte den weiteren Diskurs über Flucht, Vertreibung und Eingliederung nachhaltig prägen und dabei selbst zum Gegenstand von Kontroversen werden:

Die Charta erklärte feierlich, dass die Vertriebenen „auf Rache und Vergeltung“ verzichten, „die Schaffung eines geeinten Europas“ unterstützen und am „Wiederaufbau Deutschlands und Europas“ teilnehmen wollten. Zugleich forderte sie das „Recht auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte“, eine angemessene „Verteilung der Lasten des letzten Krieges“ und die Eingliederung in die westdeutsche Gesellschaft.[5]

Die politischen Eliten identifizierten sich damit, was die Charta zu einem Erfolg machte. Von den Vertriebenenorganisationen wurde sie (und wird sie bis heute) als ihr „Grundgesetz“ überhöht. Bundespräsident Richard von Weizsäcker lobte später den beispielhaften „Gewaltverzicht“ (1985),[6] Historiker bezeichneten sie als „Schlüsseldokument der deutschen Nachkriegsgeschichte“ (Stickler 2020)[7] oder für die Vertriebenen als eine „Brücke in die BRD“ (Hans-Ulrich Wehler, 2010).[8] Hingegen klassifizierten Kritiker die Charta aufgrund der heimatpolitischen Forderungen als „Dokument der Geschichtsklitterung“ und „des Revanchismus“ (Ulla Jelpke, 2010).[9] Auch gebe es gar kein Anrecht auf „Rache und Vergeltung“, so dass man darauf auch nicht verzichten konnte. Dass sich die Vertriebenen selbst als die „vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen“ bezeichneten und dabei weder den Holocaust, andere NS-Verbrechen oder den Vernichtungskrieg im Osten erwähnten, sei eine Unterschlagung der deutschen Verantwortung, ein „klassisches Zeugnis deutscher Verdrängungskünste“ und „ein Hemmnis auf dem Wege zur Versöhnung“ (Ralph Giordano, 2011).[10]

Gerade angesichts der heute lautstarken populistischen Rhetorik, die alarmistisch Staatsverdrossenheit, Politik- und Elitenskepsis schürt und vermeintlich einfache Lösungen für komplexe Zuwanderungsfragen propagiert, wird man die Charta differenzierter beurteilen. Keine Frage: Ihr Tonfall ist moderat, sie wirkte mäßigend, richtete trotz der Forderung des Rechts auf Heimat den Blick nach vorn und eröffnete so europäische Zukunftsperspektiven. Das bedeutete damals viel, denn das Erlebte war frisch, das Radikalisierungspotential hoch und Millionen von Menschen hätten leicht in Richtung einer revanchistischen Irredenta gelenkt werden können. Was konnte man kurzfristig mehr erreichen als die Bereitschaft zur Eingliederung, um dadurch radikalen Kräften den Boden zu entziehen? Berechtigt ist die Kritik an der Ausblendung der deutschen Verbrechen und der historischen Kausalität zwischen dem Krieg und der folgenden Flucht und Vertreibung. Diese unzulässigen Verkürzungen wurden für eine sehr lange Zeit zum Kennzeichen des ‚Vertriebenennarrativs‘.

III. Diskursthemen: Eingliederung, Erinnerung, Heimatpolitik

Der „Bund der Vertriebenen – Vereinigte Landsmannschaften und Landesverbände“ (BdV) wurde 1958 gegründet und war über ein Jahrzehnt eine der mächtigsten innenpolitischen Interessenvertretungen. Allerdings betrug der Organisationsgrad der Vertriebenen und Flüchtlinge auch zur Hochzeit um 1950 unter 50 Prozent. 1963 wurden vom BdV 2,3 Millionen Mitglieder angegeben, was 20 bis 25 Prozent der Betroffenen entsprechen würde; kritische Schätzungen liegen deutlich niedriger.[11] Viele waren also nicht Mitglied im BdV oder verweigerten seinem politischen Agieren sogar die Unterstützung, allerdings meist ohne ihre anderslautende Haltung gesellschaftlich wahrnehmbar zu artikulieren.

Das enorme politische und gesellschaftliche Potential des BdV wurde auf den großen und kleinen Vertriebenentreffen augenfällig, die der Erinnerung an das Erlebte, dem Wiedersehen mit Landsleuten und der Traditionspflege dienten. Besonders die Bundestreffen der Landsmannschaften waren Massenveranstaltungen, die der politischen Mobilisierung dienten und auf denen Forderungen mitunter drastisch vorgetragen wurden: Zum Deutschlandtreffen der Schlesier in Köln 1959 kamen 300.000 Menschen, zum Ostpreußentreffen 1963 in Düsseldorf 230.000, zum Sudetendeutschen Tag 1970 in München 300.000 usw. Drei Themen standen im Zentrum: Eingliederung, Erinnerungspolitik und Kulturpflege, Heimatpolitik.

Eingliederung:
Zur Aufnahme der Menschen gab es keine realistische Alternative, aber aus deren eigener Kraft konnte der Neuanfang nicht gelingen. Entsprechend galt dieser Aufgabe das Hauptaugenmerk der Politik und der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. In den Ländern wurden Ministerien mit entsprechenden Zuständigkeiten, im Bund 1949 das Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (BMVt) gegründet. Berufliche Eingliederung, Entschädigung und Wohnraumbeschaffung durch staatliche Bauprogramme waren prioritär. Viele Straßen in den an Dorf- und Stadträndern entstehenden Neubausiedlungen erhielten Namen, die – bis heute – an Orte und Regionen in den Herkunftsgebieten erinnern.

Über die gerechte Gestaltung des sog. „Lastenausgleichs“, bei dem es um die wenigstens anteilige Entschädigung für den Verlust von Sach- und Geldvermögen ging, wurde zwischen den politischen Parteien ebenso wie auf der Straße gestritten: „Wir zahlten mit Leben, Gut und Heimat – wo bleibt Eure ausgleichende Tat?“ oder „Keine Almosen, nur Recht“ war auf den Transparenten der Großdemonstrationen zu lesen. Das 1952 verabschiedete Lastenausgleichsgesetz umfasste individuelle Sozialleistungen, Wohnungsbaudarlehen, Wirtschafts- und Ausbildungshilfen sowie Renten. Seine Finanzierung erfolgte durch Steuern, Kredite und Darlehensrückflüsse sowie einer besonderen Lastenausgleichsabgabe der Besitzenden. So gelang es, die Vertriebenen ohne eine übermäßige Belastung der Einheimischen zu unterstützen. Das damals erfolgreich angewandte Instrument der außerordentlichen Abgabe, eine Steuer, die Eigentümer größerer Vermögen zur Überbrückung einer finanziellen Notlage des Staates verpflichtet, ist – nicht zuletzt durch die Befürwortung des Deutschen Instituts für Weltwirtschaft (Berlin) – in der Corona-Krise wieder hochaktuell geworden.

Erinnerungspolitik und Kulturpflege: ‚Heimat‘ existierte für die Vertriebenen und Flüchtlinge nur noch als unerreichbarer und imaginärer Sehnsuchtsort; die Erinnerung daran galt es in der neuen Umgebung umso mehr zu pflegen und zu bewahren. Das Bundesvertriebenengesetz, das Bund und Länder verpflichtete, „das Kulturgut der Vertreibungsgebiete in dem Bewusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge, des gesamten deutschen Volkes und des Auslandes“[12] zu erhalten, bildete die Grundlage für eine dauerhafte Kultur- und Wissenschaftsförderung, die eine Fortführung des Diskurses über Flucht und Vertreibung und der Erforschung und Vermittlung von Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa ermöglichte.

Eine persönliche Erinnerung:
Anfang der 1970er Jahren verrichtete ich in unserer Kirchengemeinde meinen Dienst als Ministrant. An jedem Sonntag um 18.00 Uhr fand eine Rosenkranzandacht statt, an der vielleicht 20 Gläubige teilnahmen – in meiner Erinnerung alles alte Frauen mit dunklen Kopftüchern. Man sagte, sie seien „aus Schlesien“ – aber was das bedeutete, habe ich damals nicht verstanden.

Die früher von Universitäten, Museen und Einrichtungen in Ostpreußen, Hinterpommern oder Schlesien übernommenen Aufgaben mussten neu organisiert werden. 1956 wurde das Fach „Ostkunde“ im Schulunterricht durch einen Beschluss der Kultusministerkonferenz eingeführt. Mit staatlicher Förderung entstand ein Netz von musealen und wissenschaftlichen Einrichtungen, von Kulturwerken und Initiativen, und in den 1960er Jahren setzte ein Gründungsboom von Heimatstuben und –sammlungen ein. Am Ende waren es bundesweit nahezu 600.[13] Darin wurden mitgebrachte oder später erworbene Erinnerungsstücke verwahrt, vor allem aber waren sie Orte des persönlichen Austauschs, in denen das Erlebte besprochen und verarbeitet werden konnte – Angebote posttraumatischer Behandlungstherapien oder anderweitige psychologische Betreuung gab es damals noch nicht.

Nach der Jahrtausendwende entstand eine Kontroverse darüber, ob es früher eine Tabuisierung von Flucht und Vertreibung gegeben hätte – also eine „Vertreibung der Vertriebenen“ (Kittel) aus der Erinnerungskultur  – oder ob das Thema im Gegenteil „eine zentrale Stellung im kollektiven Gedächtnis der Nachkriegsgesellschaft bis heute“[14] (Hahn/Hahn) gehabt hätte. Beides trifft nicht zu:

Schon bald existierten nebeneinander zahlreiche unterschiedliche Thematisierungsformen: In der Belletristik (Ernst Wiechert: „Missa sine Nomine“, 1950), im idyllisierenden Heimatfilm („Grün ist die Heide“, 1951), im Heimatbuch ebenso wie in der Geschichtswissenschaft durch die Arbeit der „Historischen Kommissionen“, mit ihren regionalen Zuständigkeiten.

Die geflohenen und vertriebenen Historiker konnten im Westen an ihre Vorkriegsforschungen über Ostpreußen, Pommern oder Schlesien anknüpfen – zu einem konzeptionellen Neuanfang kam es dabei allerdings nicht. Hinzu kam, dass führende Historiker wie Hermann Aubin selbst politisch belastet waren, sich am „Volkstumskampf“ der NS-Zeit beteiligt hatten und ihre deutschtumszentrierte Arbeit lediglich mit einer angepassten Terminologie fortsetzten.

Die Historiographie während des Kalten Krieges hatte auch die politische Funktion, die Geschichtsdeutungen in den östlichen Nachbarländern, insbesondere in Polen, zu erwidern. Der polnischen Historiographie wiederum ging es darum, die propagandistischen Zumutungen der nationalsozialistischen deutschen Volkstumsforschung zurückzuweisen und zugleich die ehemaligen deutschen Ostgebiete im Kontext der kommunistischen Propaganda als ‚urslawisches‘ Land zu beschreiben und zu vereinnahmen, um die Vertreibung und Inbesitznahme der Gebiete historisch zu legitimieren. Auf deutscher Seite verstärkte dies nur die nationalen, antislawischen und antikommunistischen Argumentationsmuster.

Ein Charakteristikum der in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten erschienenen Geschichtsliteratur ist nicht nur die Überbetonung des „Deutschtums“, sondern – wie in der Charta – die Ausblendung der historischen Zusammenhänge und der Ursachen von Flucht und Vertreibung im Zweiten Weltkrieg.

Das gilt auch für das früheste und größte zeitgeschichtliche Großforschungsprojekt der Bundesrepublik, die vom Bundesvertriebenenministerium finanzierte und herausgegebene „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“ mit zahlreichen Zeitzeugenberichten über die während der Vertreibung geschehenen Grausamkeiten. Die fünf von 1953 bis 1962 erschienenen Bände mit über 5.000 eng bedruckten Seiten waren eine politische Auftragsarbeit mit dem Ziel, das der deutschen Nation zugefügte Unrecht zu beweisen; kein Wunder, dass auch darin die Vorgeschichte nicht deutlich gemacht wurde; dementsprechend kritisch wird das Werk heute bewertet.[15]

In der Geschichtsliteratur dieser Zeit setzten die Schilderung von Flucht, Vertreibung und Heimatverlust fast immer ganz unvermittelt ‚aus heiterem Himmel‘ ein, als Anklage gegen die „Vertreiberstaaten“ und zur Verstärkung revisionistischer Standpunkte, ohne dass nach eigener Mitschuld auch nur gefragt wurde. Dieses ‚autistische Geschichtsverständnis‘ geriet ab Mitte er 1960er Jahre, als infolge der Auschwitzprozesse die selbstkritische Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld am Holocaust und an Kriegsverbrechen zunahm, immer mehr in die Isolation. Der auf Erinnerung und Bewahrung ausgerichtete und zugleich politisierte Geschichtsdiskurs der Vertriebenen verlor auch die wissenschaftliche Anschlussfähigkeit. Von der nicht selten verklärenden Literatur über die ‚alte Heimat‘ fühlten sich vor allem jüngere Menschen nicht mehr angesprochen. Sie galt als verstaubt und geriet als ‚ewig-gestrig‘ ins Abseits.

Gegenwärtig erfährt der Begriff ‚Heimat‘ wieder eine neue Wertschätzung. Viele Menschen, die sich in einer globalisierten und vernetzten Welt entwurzelt fühlen, wenden sich verstärkt ihrer Heimat zu, die Orientierung, Sicherheit und Geborgenheit bietet und Identität stiftet. Damals, so Richard von Weizsäcker 1985, „fehlte uns Einheimischen oft die Phantasie und auch das offene Herz“,[16] um die Vertriebenen zu verstehen.

Heimatpolitischer Diskurs und Ostpolitik: „Unser Nahziel ist die gleichberechtigte Eingliederung in die Bevölkerung der neuen Heimat, unser Fernziel aber heißt: Wiedergewinn der alten Heimat“; oder kürzer: „Lebensraum im Westen, Heimatrecht im Osten“,[17] so fassten Vertriebenenfunktionäre ihre politische Doppelstrategie von Integration und Revision zusammen. Die sog. „Heimatpolitik“ betraf die außenpolitische Stellung Deutschlands, dementsprechend emotionsgeladen war der politische und gesellschaftliche Diskurs darüber.

Die  Regierung unter Konrad Adenauer hatte kein Interesse daran, Forderungen auf Rückkehr und Gebietsrückgabe tatsächlich auf die Agenda zu setzen, denn dies hätte innenpolitische Unruhe und außenpolitische Krisen heraufbeschworen, zumal bei den Siegermächten Konsens darüber bestand, den territorialen Status quo von 1945 nicht anzutasten.[18] Am Kabinettstisch war man sich weitgehend einig: Eingliederung, Entschädigung und kulturelle Bildung: ja – außenpolitischer Revisionismus: nein. Folglich spielte man ein Doppelspiel: Offiziell bekannten sich die großen Volksparteien zu den heimatpolitischen Forderungen der Vertriebenenorganisationen, um deren Wählerpotential nicht zu verprellen, aber tatsächlich trat kaum jemand für deren politische Umsetzung ein. So waren die Spitzenrepräsentanten von CDU/CSU und SPD auf den Vertriebenen-Großkundgebungen präsent und unterstützten die dortigen lautstarken Forderungen: „Verzicht ist Verrat“, hieß es in einer Grußbotschaft des SPD-Parteivorstands an das Schlesiertreffen von 1963.

Der Erfolg der Eingliederungspolitik und mehr noch die Partizipation der Vertriebenen am „Wirtschaftswunder“ der 1950er und 1960er Jahre ließ den Rückkehrwillen schwinden, und je länger die Situation anhielt, desto klarer wurde, dass es eine Rückkehr nicht geben würde. Die Deutschen begann, sich mit dem Verlust der Ostgebiete abzufinden.

Die Stimmung und mit ihr die deutsche Ostpolitik veränderten sich während der von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger und seinem Außenminister Willy Brandt angeführten Großen Koalition (1966-1969). Kurz vor der Bundestagswahl von 1969 kam es zum politischen Bruch zwischen SPD und BdV, als BdV-Präsident Reinhold Rehs, bisher SPD-Mitglied, angesichts der Ostpolitik Brandts zur CDU übertrat und einen emotionalen Wahlaufruf gegen die „Brandt-Scheel-Verzichtspartei“[19] herausgab. Der Kurswechsel zur ‚Neuen Ostpolitik‘ unter dem Slogan „Wandel durch Annäherung“ wurde dann durch die von Willy Brandt geführte sozialliberale Koalition vollzogen und mündete in den Abschluss der „Ostverträge“ (1970 Moskauer und Warschauer Verträge). Der vom BdV gegen die Entspannungspolitik geführte Kampf blieb erfolglos.

Bereits damals hatte der BdV infolge des Rückgangs der Mitgliederzahlen seine gesellschaftliche und politisch-gestaltende Kraft verloren. Sein Pochen auf das Recht auf Heimat wurde von den östlichen Nachbarn als revisionistisch und revanchistisch scharf kritisiert. In der deutschen Bevölkerung schwand die Resonanz. Heimatpolitisch konnten die Vertriebenenverbände also nicht viel erreichen. Die Entfremdung zur SPD, die 1969 gleich nach der Bundestagswahl des Bundesvertriebenenministeriums auflöste, sollte bis weit in das neue Jahrtausend andauern.

Obwohl der Warschauer Vertrag faktisch die Westgrenze Polens festgeschrieben hatte, hielten die Emotionen an: Die Vertriebenenverbände vertraten weiter die Ansicht, dass das Deutsche Reich in den Grenzen von 1937 weiterbestehe und sich das Wiedervereinigungsgebot auf das ganze Gebiet erstrecke. Als 1973 ein Bundesverfassungsgerichtsurteil diese Rechtsauffassung bestätigte, ließ sich ein führender SPD Vertreter – strittig ist, ob Kanzleramtsminister Horst Ehmke oder Fraktionsvorsitzender Herbert Wehner – dazu hinreißen, die Verfassungsrichter als „die acht Arschlöcher von Karlsruhe“[20] zu titulieren, von denen man sich die Ostpolitik nicht kaputtmachen ließe. Nach dem Regierungswechsel von 1982 setzte CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl den internationalen Verständigungskurs fort, ohne dabei auf den BdV besonders Rücksicht zu nehmen.

Eine persönliche Erinnerung:
1985 trat ich meine erste Anstellung im neuen Projektbereich Schlesische Geschichte der Universität Stuttgart an – und in diesem Jahr geriet Schlesien ausnahmsweise in die Schlagzeilen: Helmut Kohl hatte den Besuch des Schlesiertreffens angekündigt. Als aber die Veranstalter das Motto „Schlesien bleibt unser“ wählten, um den Bundeskanzler für territoriale Forderungen einzuspannen, kochte die Stimmung. In der Universität waren damals auf jeder Entscheidungsebene Vorbehalte zu spüren, ob ein Projektbereich über Schlesien überhaupt etwas Seriöses sein könne.

IV. Die kirchliche Avantgarde der Versöhungsdiskurse

Die neue Ostpolitik war von zwei kirchlichen Initiativen mit vorbereitet worden: auf evangelischer Seite durch die sog. „Ostdenkschrift“ der EKD, auf katholischer durch den Briefwechsel der polnischen und deutschen Bischöfe: Am 1. Oktober 1965, kurz nach der Bundestagswahl, erschien die Denkschrift „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“.[21] Sie reflektierte empathisch die Lebenssituation der Vertriebenen einschließlich der „menschlichen Erniedrigungen, denen die meisten Vertriebenen ausgesetzt waren“. Zugleich aber verwies sie auf die Kausalität zwischen Krieg und Vertreibung, empfahl den Verzicht auf das Ziel der Wiederherstellung der Grenzen von 1937 und die Respektierung des Heimatrechts der neuen polnischen Bevölkerung in den Gebieten jenseits von Oder und Neiße. Die Reaktionen auf diesen Tabubruch reichten von freudiger Zustimmung bei der SPD und FDP über gemischte Äußerungen bei der CDU bis zur einhelligen Ablehnung der Vertriebenenverbände, die von einem „Missbrauch der kirchlichen Autorität“[22] sprachen.

Einige Wochen später fand dann der berühmte Briefwechsel statt: Am 18. November 1965 sandten die polnischen Bischöfe eine Einladung zur Versöhnung an ihre deutschen Amtsbrüder, die das Trauma der deutschen Besatzung, die Oder-Neiße-Grenze als besondere Schwierigkeit im Verhältnis zueinander und auch das Leid der deutschen Vertriebenen offen ansprach. Am Ende folgte der berühmte Satz „[Wir] gewähren Vergebung und bitten um Vergebung“. Die Antwort der deutschen Bischöfe enthielt das Eingeständnis der von Deutschen in Polen angerichteten Verbrechen, den Dank für die Erwähnung deutscher Opfer und ebenfalls eine Bitte um Vergebung. Zur Oder-Neiße-Grenze fehlte aber eine klare Positionierung, was für die Polen enttäuschend war – die Oberhirten hatten sich dazu nicht durchringen können, auch aus Sorge vor der katholisch-konservativen Kritik.

Die „Ostdenkschrift“ und der „Briefwechsel“ trugen wesentlich zum Mentalitätswandel in Deutschland bei und markierten eine Zäsur für die Versöhnung mit Polen. Sie wirkten zukunftsweisend für die Überwindung der Teilung Europas und bis heute als Inspiration für andere Versöhnungsprozesse in Europa und weltweit.[23]

V. Der Diskurs in der DDR

Über vier Millionen Heimatvertriebene hatten Aufnahme in den mitteldeutschen Ländern in der Sowjetischen Besatzungszone gefunden, die hernach das Staatsgebiet der 1949 gegründeten DDR bildeten – sie machten immerhin 24 Prozent der Bevölkerung aus. Hier verlief der politische und gesellschaftliche Diskurs anders als im Westen: Die SED-Staatsführung erkannte – ganz auf der Linie der sowjetischen Politik - schon 1950 im „Görlitzer Vertrag“ die „Oder-Neiße-Friedensgrenze“ mit Polen an und wich damit von der Haltung der Bundesrepublik, die die Grenzfrage offenhielt, grundsätzlich ab. In der DDR wurde der Diskurs über die Geschichte der östlichen Provinzen des Deutschen Reichs ausgeblendet, die Erfahrung von Flucht und Vertreibung  aus politisch-ideologischen Gründen unterdrückt oder allenfalls verharmlosend ohne die geschehenen Gewalttaten erwähnt. Offiziell sprach man euphemistisch und verfälschend von „Umsiedlern“ oder einfach nur von „Neubürgern“, die sich möglichst geräuschlos in die sozialistische Gesellschaft zu integrieren hatten – Kulturpflege und Erinnerung an die frühere Heimat oder gar eine politische Artikulation spezifischer Interessen konnte dabei nur hinderlich sein, Vertriebenenorganisationen wurden nicht zugelassen. Die Staatsführung der DDR wollte so vermeiden, dass es womöglich zu Schuldzuweisungen an das sozialistische „Bruderland“, die Volksrepublik Polen, oder zu politischen Spannungen mit der Schutzmacht Sowjetunion kommen könne. Obwohl es besonders in der Literatur und im Film gewisse Erinnerungsfreiräume gab, bestand nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik in den neuen Bundesländern ein besonders hoher Informationsbedarf über die Vertriebenen. Die jahrzehntelange gegen alles Fremde und Nonkonforme gerichtete staatliche Durchsetzung maximaler sozialistischer Homogenität wurde nun zum Nährboden für Fremdenfeindlichkeit.

VI. Internationale Diskurse nach der Wiedervereinigung

Mit dem Zwei-Plus-Vier-Vertrag und dem folgenden deutsch-polnischen Grenzvertrag (1990) wurde die Grenze mit Polen endgültig anerkannt. Prinzipientreu hatte der damalige BdV-Präsident Herbert Czaja heftig, aber erneut wirkungslos dagegen votiert; der Mitgliederschwund infolge der allmählich erlöschenden Erlebnisgeneration hatte zum weitgehenden Verlust an Einfluss geführt. Dass der Verzicht auf die ehemaligen Ostgebiete ausgerechnet durch eine unionsgeführte Bundesregierung vollzogen wurde, war für viele eine besondere Enttäuschung.

Jetzt führte die neue Durchlässigkeit der Grenzen zu einer bisher nicht gekannten Internationalisierung der Geschichtsdiskurse. Dem BdV ging es dabei vor allem um die  dauerhafte gesellschaftliche Sicherung der Anerkennung des Vertreibungsunrechts und des Opferstatus der Vertriebenen – der Konflikt mit der Holocausterinnerung als Teil der Staatsräson Deutschlands war absehbar. Nun setzte ein Kampf um die Deutungshoheit ein.

Im Kalten Krieg waren der historische Rückblick auf den früheren ‚deutschen Osten‘ sowie auf Flucht und Vertreibung einfacher gewesen, weil Diskussionspartner in den östlichen Nachbarländern ja weitgehend gefehlt hatten. Jetzt zeigte sich, dass es nicht leicht war, die unterschiedlichen Perspektiven zusammenzubringen.

Zunächst wurde als Folge der in den 1990er Jahren stattfindenden Debatten über die Beteiligung der Deutschen Wehrmacht an Kriegsverbrechen (im Zuge der Hamburger „Wehrmachtsausstellung“ ab 1995) und über die Involvierung der gewöhnlichen Deutschen in den Holocaust („Goldhagen-Debatte“, 1996) die historische deutsche Schuld noch einmal betont. Es glich einer Gegenreaktion, dass nun, sechs Jahrzehnte nach Kriegsende, auch das von Deutschen erduldete Kriegsleid infolge des alliierten Bombenkriegs und von Flucht und Vertreibung neu akzentuiert wurde. Aber: Wie konnte darüber im Schatten der monströsen NS-Verbrechen angemessen gesprochen werden? Durften die Vertriebenen Opfer sein?[24] Angesichts der Diskussion solcher Fragen warnten namhafte Historiker sogleich vor einem erinnerungspolitischen „Gezeitenwechsel“, vor einer „Opferkonkurrenz“ zwischen Verfolgten des NS-Staates und Kriegsfolgeopfern[25] und kritisierten eine neue Viktimisierungstendenz: Der Erinnerungstheoretiker Harald Welzer befürchtete gar einen Rückfall in die Haltung des „leidenden Kollektivs“.

Der Diskurs über Flucht und Vertreibung zog im Jahrzehnt des Beitritts Polens und weiterer Staaten zur Europäischen Union (2004 und 2007) immer weitere Kreise; auch die Medien und der Buchmarkt interessierten sich zunehmend dafür: Günter Grass veröffentlichte 2002 die Novelle „Im Krebsgang“[26] über den Untergang der Wilhelm Gustloff und deren Auswirkungen auf die Gegenwart, im Fernsehen waren die fünfteilige Guido-Knopp-Dokumentation „Die große Flucht“ (2001) und zur besten Sendezeit der Zweiteiler „Die Flucht“ (2007) über die Vertreibung aus Ostpreußen zu sehen. 2010 erschien der Atlas „Zwangsumsiedlung, Flucht und Vertreibung 1939-1959“,[27] der in großer Auflage über die Bundeszentrale für politische Bildung vertrieben wurde. Er ist nur ein Beispiel für den mittlerweile auf allen Ebenen erreichten deutsch-polnischen Austausch, denn der Atlas war eine Übersetzung aus dem Polnischen und zuerst 2008 in Warschau herausgekommen: Seit dem Ende des Kalten Krieges waren im Wissenschafts- und Bildungsbereich zahlreiche auf Verständigung und Multiperspektivität basierende Kooperationen gewachsen, so dass sogar von „Versöhnungskitsch“ die Rede war.

Die Diskurse in Deutschland und Polen waren besonders stark aufeinander bezogen. In Polen bestand die Sorge, dass eine neue Interpretation dazu führen könne, dass sich die Deutschen als Opfer stilisierten, so dass Polen als „Vertreiberstaat“ und Täternation dastünde. Der Historiker Pawel Machcewicz fasste zusammen: „In Polen sprechen wir offen über die dunklen Seiten unserer Geschichte, erinnern an die Leiden, die polnische Hände Bürgern anderer Völker bereitet haben. Dagegen verstärkt sich in Deutschland die Neigung, sich auf das eigene Leid zu konzentrieren, oft in Begleitung ungerechter Anschuldigungen an andere Nationen. In den Schatten gestellt wird die Verantwortung für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und die verbrecherische Okkupationspolitik als Ursache dessen, was die Deutschen später erlebt haben […]“.[28]

In Polen hatte in den 1990er Jahren eine selbstkritische Auseinandersetzung mit den schwierigen Kapiteln der eigenen Geschichte begonnen. Diese bezog sich auf Antisemitismus und Übergriffe gegen Juden („Massaker von Jedwabne“, 1941), auf die „Aktion Weichsel“ (Zwangsumsiedlung von Ukrainern, 1947) und auch auf die Vertreibung der Deutschen, die mit sämtlichen Implikationen einschließlich der polnischen Verantwortung dafür erstmals dokumentiert und diskutiert wurde. Auch hier sorgten die Medien für eine große öffentliche Resonanz; möglicherweise befassten sich die Menschen in Polen damals intensiver als in Deutschland mit dem Schicksal der Vertriebenen.[29] Diese polnische Vertreibungsdebatte wurde in Deutschland allerdings kaum beachtet – was in Polen wiederum Unverständnis ausgelöst hat.

Auf beiden Seiten und miteinander wurde sachlich und auch emotional diskutiert, wie man „Vertreibung europäisch erinnern“[30] kann und ob das 20. Jahrhundert als ein „Jahrhundert der Vertreibungen“ oder doch richtiger als ein „Jahrhundert der totalitären Diktaturen“ zu bezeichnen sei. Gelegentlich wurden eigentlich überwunden geglaubte nationale Stereotypen hervorgeholt und die extreme Rechte in Deutschland suchte den Tabubruch, indem sie den Begriff „Vertreibungsholocaust“ verwendete.  

Während viele Polen glaubten, die Deutschen wollten sich als Opfer stilisieren, entstand in Deutschland der Eindruck, die Polen wollten den Deutschen das Recht bestreiten, ihrer Opfer zu gedenken.[31] Es dauerte nicht lange, bis der Vergangenheitsdiskurs eine politische, phasenweise sogar tagespolitische Dimension erhielt und sogar die Regierungschefs und Präsidenten beider Länder beschäftigte.

Der Konflikt um die Deutungshoheit fokussierte sich besonders auf den ab 1999 verfolgten Plan des BdV zur Einrichtung eines „Zentrums gegen Vertreibungen“ in Berlin. Hintergrund war, dass es bislang zwar viele Heimatstuben und regionale Landesmuseen gab, die Kultur und Geschichte der Regionen im östlichen Europa einschließlich Flucht und Vertreibung dokumentierten, aber kein nationaler Erinnerungsort existierte, der das ‚Opfergedenken‘ über das Erlöschen der Erlebnisgeneration hinaus gesichert hätte, wie er nun vom BdV gefordert wurde. Obwohl das BdV-Projekt eine Einbindung in den Kontext anderer Zwangsmigrationen vorsah, erkannten Kritiker darin den Versuch, die deutsche Schuld an den nationalsozialistischen Verbrechen in Polen zu banalisieren und kleinzureden – da die Deutschen als Opfer im Mittelpunkt stünden – einen neuen Geschichtsdiskurs zu installieren. In der Stellungnahme eines internationalen Historikerkreises (2003) ist davon die Rede, dass eine „Entkontextualisierung der Vergangenheit drohe, die Negation des ursächlichen Zusammenhangs von NS-Volkstums- und Vernichtungspolitik auf der einen und Flucht und Vertreibung der Deutschen auf der anderen Seite [ … und die] Zementierung eines völkischen Verständnisses von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“[32]

Zugespitzt wurde die Auseinandersetzung durch die 2000 gegründete „Preußische Treuhand“, eine Organisation, die auf dem Rechtsweg früheres Eigentum von Deutschen in den 1945 an Polen übergegangenen Gebieten einklagen wollte. Obwohl sich die Bundesregierung ebenso wie der BdV von diesen, in der deutschen Öffentlichkeit nur wenig beachteten Aktivitäten distanzierte, fiel die Antwort aus Polen deutlich aus: 2004 verabschiedete der Sejm eine Resolution betreffend die „Rechte Polens auf deutsche Kriegsreparationen sowie zu den in Deutschland vorgebrachten unrechtmäßigen Forderungen gegenüber Polen und polnischen Bürgern“. Der Streit um den ‚Deutschen Osten‘ war noch einmal in der großen Politik angekommen – wenn auch nur für kurze Zeit.

Eine persönliche Erinnerung:
Die Verhandlungen über die Bildung eines internationalen „Netzwerks gegen Vertreibungen“ kamen 2004/05 kaum voran. Ein polnisches Delegationsmitglied sagte mir in einer Pause: ‚Das Problem für uns ist, dass ihr Deutschen immer die Vertreibungen und Zwangsmigrationen in den Mittelpunkt stellt, wobei ihr die größte Opfergruppe seid – darauf können wir nicht eingehen. Lasst uns alle Opfer von Krieg und Totalitarismus des 20. Jahrhunderts betrachten, dann sind wir Polen dabei.‘ So kam es dann auch.

In der erhitzten Gemengelage favorisierte die SPD als Partnerin in der großen Koalition die Bildung eines internationalen, dezentralen „Netzwerks gegen Vertreibungen“. Daraus ging das 2005 in Warschau gegründete „Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität“ (ENES)[33] hervor, dessen Aufgaben sich auf die Vermittlung der Geschichte des ganzen 20. Jahrhunderts erstreckte. Anstelle des Zentrums gegen Vertreibungen wurde 2008 die Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ (SFFV) in Berlin errichtet mit dem Auftrag, „an das Unrecht von Vertreibungen zu erinnern und Vertreibung für immer zu ächten“. Nach Jahren des quälenden Streits um die inhaltliche Ausrichtung und um Personalien konnte 2012 eine letztlich im In- und Ausland akzeptierte Konzeption verabschiedet werden. Die Dauerausstellung der Stiftung FVV soll 2021 eröffnet werden.

Die gesellschaftliche Virulenz und der politische Tiefgang der Diskussion zeigte sich nicht zuletzt darin, dass die SFVV, das ENES und das Thema Flucht und Vertreibung in den Koalitionsverträgen der Regierungsparteien von 2005, 2009, 2013 und 2018 behandelt wurden. Die skizzierte Diskussion war bislang die letzte große Kontroverse über Flucht und Vertreibung der Deutschen, die nicht nur die deutsche und internationale Politik beschäftigte, sondern auch die Öffentlichkeit erreichte.

Der Umgang der Deutschen mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts insgesamt wird sehr unterschiedlich, ja kontrovers beurteilt. Die Spannweite reicht von der Konstatierung eines sogar beispielgebend-selbstkritischen Umgangs mit der Vergangenheit, so dass sogar andere „von den Deutschen lernen“ (Susan Neiman)[34] könnten, bis zum Gegenteil: die Deutschen seien weitgehend einer einseitigen Selbstviktimisierung verfallen und von ihrer „Kollektiven Unschuld“ (Samuel Salzborn)[35] überzeugt. Wie so oft hängt auch hier das Urteil davon ab, welche Perspektive jeweils eingenommen und welche Intention verfolgt wird.

VII. Willkommenskultur

Flucht und Vertreibung sind in den gesellschaftlichen und in den politischen Diskurs zurückgekehrt. Eine Zäsur bedeutete das Jahr 2015, als Schutzsuchende in großer Zahl nach Europa und insbesondere nach Deutschland kamen. Viele Deutsche fühlten sich an die Millionen von Heimatvertriebenen am Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert. Aber ob man die gegenwärtigen Zwangsmigrationen und Integrationsfragen, die Menschen mit anderen Kulturen, Sprachen und Religionen beträfen, tatsächlich mit Flucht und Vertreibung der Deutschen vergleichen oder auch nur sinnvoll in Verbindung bringen dürfe, das wurde zunächst sehr kritisch gesehen.

Letztlich brachten Kirchenvertreter, der Präsident des BdV und auch diejenigen, die –selbst hochbetagt – der sog. Erlebnisgeneration angehörten, zum Ausdruck, dass die Erfahrungen doch vergleichbar seien. Die Bundesregierung legte deshalb den vom BdV seit langem geforderten „Gedenktag für die Opfer an Flucht und Vertreibung“ auf den 20. Juni, den Weltflüchtlingstag der Vereinten Nationen.[36]

Bei der ersten Feier des Gedenktags hob Bundespräsident Joachim Gauck hervor, dass „die Schicksale von damals und die Schicksale von heute“ auf eine „ganz existenzielle Weise“[37] zusammengehörten. Die „Willkommenskultur durch Schicksalsvergleich“, die eine freundliche, empathische Aufnahme von Flüchtlingen beinhaltet, beruht ein Stück weit auch auf eigener historischer Erfahrung der Deutschen mit Zuwanderung und erfolgreicher Eingliederung.

Fußnoten

[1] Zu der in diesem Beitrag behandelten Thematik siehe Matthias Stickler: „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“. Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949-1972 (= Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte 46), Düsseldorf 2004.

[2] Preußen-Atta title="Der Spiegel">Der Spiegel 16 (1947), S. 4 f., https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41121766.html [Stand: 27.01.2021]; Andreas Kossert: Wann ist man angekommen? Flüchtlinge und Vertriebene im Nachkriegsdeutschland, in: Deutschland Archiv, 30.11.2016, www.bpb.de/238108 [Stand: 27.01.2021].

[3] Mathias Beer: Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen, München 2011, S.127.

[4] Andreas Kossert: Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008.

[5] Die Zitate aus der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ vom 05. August 1950 sind online abrufbar unter https://www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-28412 [Stand 24.02.2021].

[6]  Die Rede Richard von Weizsäckers im Rahmen der Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa am 08. Mai 1985 ist online abrufbar unter https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Richard-von-Weizsaecker/Reden/1985/05/19850508_Rede.html [Stand 24.02.2021].

[7] Matthias Stickler: Verkündung der „Charta der Heimatvertriebenen“ in Stuttgart,  https://www.kas.de/de/web/geschichte-der-cdu/kalender/kalender-detail/-/content/charta-der-heimatvertriebenen-v2 [Stand 24.02.2021].

[8] Hans-Ulrich Wehler: Enorme Integrationsleistung, https://www.deutschlandfunkkultur.de/enorme-integrationsleistung.954.de.html?dram:article_id=145507 [Stand 24.02.2021].

[9] Ulla Jelpke: Pressemitteilung: Vertriebenen-Charta ist ein Dokument des Revanchismus, online abrufbar unter https://www.ulla-jelpke.de/2010/08/pressemitteilung-vertriebenen-charta-ist-ein-dokument-des-revanchismus/ [Stand 24.02.2021].

[10] Ralph Giordano: Die Vertreibung ist vom Holocaust nicht zu trennen, https://www.welt.de/debatte/kommentare/article13523435/Die-Vertreibung-ist-vom-Holocaust-nicht-zu-trennen.html [Stand 24.02.2021].

[11] Matthias Stickler: Bund der Vertriebenen (BdV), in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012, ome-lexikon.uni-oldenburg.de/54033.html [Stand: 27.01.2021]; Eva Hahn/Hans Henning Hahn: Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos Geschichte, Paderborn 2010, S. 596.

[12] Matthias Weber: Kultur- und Wissenschaftsförderung nach dem Bundesvertriebenengesetz (§ 96 BVFG), in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012, ome-lexikon.uni-oldenburg.de/55230.html [Stand: 27.01.2021].

[13] „Dokumentation der Heimatsammlungen in Deutschland“, https://www.bkge.de/Heimatsammlungen [Stand: 27.01.2021].

[14] Hahn/Hahn (wie Anm. 11), S. 341.

[15] Mathias Beer: Im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte. Das Großforschungsprojekt „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 46, Heft 3 (1998), S. 345-389, https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1998_3_1_beer.pdf [Stand: 27.01.2021].

[16] Rede Richard von Weizsäckers vom 08. Mai 1985 (wie Anm. 6).

[17] Zit. nach Michael Schwartz: Vertriebene im doppelten Deutschland. Integrations- und Erinnerungspolitik in der DDR und in der Bundesrepublik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56, Heft 1 (2008), S. 101-151, hier S. 124, https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2008_1_4_schwartz.pdf [Stand: 27.01.2021]; Hahn/Hahn (wie Anm. 11), S. 412 ff.

[18]Matthias Stickler: Bundesrepublik Deutschland. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2018. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p45301 [Stand: 24.02.2021].

[19] Manfred Kittel: Vertreibung der Vertriebenen. Der historische deutsche Osten in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik (1961-1982) (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte – Sondernummer), München 2007, S.105.

[20] Ebd., S. 106.

[21] „Ostdenkschrift“, https://archiv.ekd.de/EKD-Texte/45952.html [Stand: 27.01.2021].

[22] Stefan Marx, https://www.kas.de/de/web/geschichte-der-cdu/kalender/kalender-detail/-/content/ostdenkschrift-der-evangelischen-kirche-in-deutschland [Stand: 27.01.2021]-

[23] Urszula Pekala: Briefwechsel der polnischen und deutschen Bischöfe, in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2018, www.ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p43232 [Stand: 27.01.2021].

[24] Michael Schwartz: Dürfen Vertriebene Opfer sein? Zeitgeschichtliche Überlegungen zu einem Problem deutscher und europäischer Identität, in: Deutschland Archiv 38 (2005), Heft 3, S. 494-505; Matthias Weber: Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im deutsch-polnischen Diskurs (= Acta Universitatis Wratislaviensis 3715),  Wroclaw 2016, S. 399-424, http://dx.doi.org/10.19195/0435-5865.141.26 [Stand: 27.01.2021].

[25] Schwartz (wie Anm. 24), S. 494.

[26] Günter Grass: Im Krebsgang, Göttingen 2002.

[27] Zwangsumsiedlung, Flucht und Vertreibung 1939-1959. Atlas zur Geschichte Ostmitteleuropas (= Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe 1015), Bonn 2010.

[28] Pawel Machcewicz (2004), in: Stefan Troebst (Hg.): Vertreibungsdiskurs und europäische Erinnerungskultur. Deutsch-polnische Initiativen zur Institutionalisierung – eine Dokumentation (= Veröffentlichung der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Bundesverband e.V. 11), Osnabrück 2006, S. 118.

[29] Claudia Kraft: Die aktuelle Diskussion über Flucht und Vertreibung in der polnischen Historiographie und Öffentlichkeit, in: Zeitgeschichte-online: Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung, Januar 2004, http://www.zeitgeschichte-online.de/md=Vertreibung-Kraft  [Stand: 27.01.2021].

[30] Dieter Bingen/Wlodzimierz Borodziej/Stefan Troebst (Hg.): Vertreibungen europäisch erinnern? Historische Erfahrungen, Vergangenheitspolitik, Zukunftskonzeptionen (= Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts 18), Wiesbaden 2003.

[31] Dieter Bingen: Die deutsch-polnischen Beziehungen nach 1945, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 5/6 (2005), S. 9-17, hier S. 16.

[32] Hans Henning Hahn/Eva Hahn/Alexandra Kurth/Samuel Salzborn7Tobias Weger (Initiatoren): For a critical and enlightened debate about the past, 2003, http://www.vertreibungszentrum.de [Stand: 27.01.2021].

[33] https://enrs.eu [Stand: 27.01.2021].

[34] Susan Neiman: Von den Deutschen lernen. Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können, Berlin 2020.

[35] Samuel Salzborn: „Kollektive Unschuld“. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern, Leipzig 2020.

[36] Stephan Scholz: Willkommenskultur durch „Schicksalsvergleich“. Die deutsche Vertreibungserinnerung in der Flüchtlingsdebatte, https://www.bpb.de/apuz/229823/die-deutsche-vertreibungserinnerung-in-der-fluechtlingsdebatte [Stand: 27.01.2021].

[37] Joachim Gauck: Rede anlässlich des ersten Gedenktages für die Opfer von Flucht und Vertreibung, Berlin, 20.06.2015, http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/06/150620-Gedenktag-Flucht-Vertreibung.html [Stand: 27.01.2021].

Autor

Prof. Dr. Matthias Weber ist Historiker und Direktor des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Oldenburg.
 

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